Das Ende der DDR

Wenn Franziska van Almsick abdankt, bleibt fast nichts mehr von dem berühmten Ost-Sport zurück

Es ist soweit. In diesen Tagen, kurz vor Ende des Jahrhunderts, und obendrein ziemlich weit weg, genauer: im türkischen Istanbul, wird die DDR endgültig aufhören zu existieren. Denn dann wird Franziska van Almsick, die jüngste, aber gleichzeitig auch die letzte Repräsentantin des DDR-Sportsystems, bei den dort stattfindenden Schwimm-Europameisterschaften auf keinen Fall der große Star sein. Und wenn sie geht, bleibt kaum noch jemand.

Elf Jahre alt war Franziska van Almsick, als die Mauer fiel. Zwölf war sie, als die staatliche Einheit vollzogen wurde, und gerade mal 13, als sie bei den Deutschen Meisterschaften 1991 über 200 Meter Freistil Zweite wurde, die Qualifikation für die damals gerade anstehenden Schwimm-Europameisterschaften schaffte, wegen ihres Alters aber nicht mitreisen durfte.

Mittlerweile ist Franziska van Almsick 21 Jahre alt und darf bei der EM über die Strecke, auf der sie 1991 ins vereinigte deutsche Wettkampfgeschehen eintauchte und auf der sie auch den Weltrekord hält, nicht an den Start gehen: Bei den deutschen Meisterschaften in Leipzig hatte sie die Qualifikation schlicht verpaßt.

1991 hatte sie immer wieder betont, daß sie ihre Erfolge der DDR verdanke. Sie trete mit Stolz im DDR-Schwimmanzug an, und wer etwas gegen diese DDR sage, bekomme es mit ihr zu tun. Das Getöse über den gerade untergegangen Staat nahm so recht niemand ernst, es entstammte eben dem Mund eines Kindes.

Franziska van Almsick hat in der DDR tatsächlich schwimmen gelernt. Sie selbst sagte in der vergangenen Woche in einem Interview, sie habe damals zwar eine große Klappe gehabt, "und dann ist manchmal doch das eingetreten, was ich ein bißchen vorlaut vorausgesagt habe. Nach der Wende bin ich mit meinen Eltern in unserem Wartburg durch die Gegend gefahren. Wir haben mit großen Augen an einem Porsche haltgemacht. Da hab ich zu meiner Mutter gesagt: 'Wenn ich mal reich bin, kauf' ich dir den.' Heutzutage könnte ich es."

Dies verdankt sie ihren Erfolgen im Schwimmbecken, und die wiederum verdankt sie ihrem sportlichen Grundlagentraining in der DDR, ihrem früheren und ihrem heutigen Trainer, die beide in der DDR ausgebildet wurden. Und auch ihre Trainingsstätte, das Sportzentrum Hohenschönhausen, wurde zu DDR-Zeiten errichtet. Franziska van Almsick gehört, obwohl erst 1978 geboren, zur letzten Generation der DDR-Stars.

Mit ihr sind noch Sportler wie Axel Schulz, Heike Drechsler, Birgit Fischer, Uta Pippig, Grit Breuer, Andreas Thom, Ulf Kirsten oder Matthias Sammer aktiv. Das sind allerdings alles Aktive, die ihr letztes Gefecht bestreiten. Wenn nicht 1999, so wird spätestens im Jahr 2000, bei den Olympischen Spielen in Sidney, Schluß mit dem DDR-Sport sein.

Andere Aktive, wie Almsicks Schwimmkollegin Anja Buschschulte, schwimmen zwar im Osten, stammen aber aus dem Westen. Wieder andere, wie die Radprofis Erik Zabel und Jan Ullrich, stammen aus dem Osten, wohnen aber im Westen. Zabel und Ullrich verdanken ihre sportlichen Fähigkeiten der Förderung in Kinder- und Jugendschulen der DDR, wo sie überhaupt über die DDR-Talentsichtung zu ihrem Sport gekommen sind. Aber Zabel ist einfach nur der Profi "aus Unna", der "gebürtige Berliner", und nicht mehr in die Kategorien Ost-West einzuordnen. Jan Ullrich ist immer der "Rostocker aus Merdingen im Schwarzwald" oder, alternativ, der "Merdinger aus Rostock". Manchmal ist er auch der "Berliner", aber als Ossi wird er nie wahrgenommen.

Almsick aber ist Ossi. Und daß sie die aus dem Osten war, blieb in der öffentlichen Wahrnehmung stets präsent. Egal, ob es um ihre Mutter eine Stasi-Diskussion gab oder ihr Ex-Trainer in einen Doping-Prozeß verwickelt war.

Nun geht die Karriere zu Ende, was ein banaler Vorgang wäre, handelte es sich nicht um die Vorzeige-Ostlerin. Denn Franziska van Almsick ist es, darin unterscheidet sie sich von ihren sportlichen Kollegen wie Axel Schulz oder Heike Drechsler, nicht gelungen, diesen Bezug zu ihrer Herkunft abzulegen. Zwar hatte auch Drechsler ihre Doping-Anschuldigungen und Schulz seine IM-Akte, und all das fehlt Franziska van Almsick, die zum Mauerfall gerade elf Jahre alt war, aber sie steht immer noch und immer wieder für den Osten - und damit in Deutschland ziemlich allein. Grit Breuer und Uta Pippig zum Beispiel waren resp. sind zwar auch in Doping-Affären verwickelt, aber bei Breuer galt die öffentliche Aufmerksamkeit mehr ihrer dem damaligen Skandal den Namen gebenden Kollegin Katrin Krabbe. Und bei Pippig hat sich für das Doping-Geständnis, das sich auf DDR-Zeiten bezog, niemand interessiert - die gegenwärtige Sperre gilt überdies der im Ausland lebenden, von Nike zum Weltstar aufgebauten Athletin. Almsick hatte keinen Dopingskandal, wurde diesbezüglich immer nur am Rande erwähnt, aber blieb auch stets in Deutschland und damit deutschen Werten treu: Milka und Opel eben.

Franziska van Almsick verkörpert die Lernprozesse, die die DDR-Bevölkerung durchlief: Vom Lob der DDR zur Unwilligkeit, etwas mit Politik zu tun zu haben. Vom Wartburgfahren zum Motorradunfall und zum Führerscheinentzug, weil sie mit über hundert Stundenkilometern durch die Stadt raste. Vom Hausen in der Ostberliner Altbauwohnung mit Ofenheizung zum kleinen Häuschen im die Hauptstadt umgebenden Speckgürtel. Vom vollmundigen Vorsatz, man brächte die Leistung und die Fähigkeit zur Leistung in die deutsche Einheit ein zur Erkenntnis, daß es jetzt - nach zehn Jahren Warten auf die blühenden Landschaften - aber erst mal reicht mit dem Schuften, Ranklotzen und daß deswegen die anderen auch mal was tun sollten. Vom "Wenn ich mal reich bin, kauf' ich dir den" zum Heute-Kaufen-Können. Kurz: Franziska van Almsick verkörpert mehr als andere Ex-DDR-Sportler das besondere ostzonale Nachwendegefühl.

Das ist nachvollziehbar, verblüffender ist es, wenn man bemerkt, daß sie eine ähnliche Funktion - letzte Retterin des realen Sozialismus - auch international wahrnimmt. Zum einen, weil sie mit ihrem immer noch aktuellen Weltrekord über die 200 Meter Freistil eine der letzten ist, die sich noch erfolgreich in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit den chinesischen Schwimmerinnen messen konnte. Zum anderen, weil sie, wenn sie jetzt in der Türkei bei den EM antritt, auch ausländische Kollegen in ähnlicher Mission hat.

"Ein Prominenten-Trio schickt sich an, das Rad der Zeit zurückzudrehen", schrieb im Vorfeld der Schwimm-EM die Wiener Presse und nennt außer van Almsick noch Denis Pankratow und Alexander Popow - die zwei russischen Ausnahmeschwimmer der neunziger Jahre, die, wie van Almsick, ihre Ausbildung realsozialistischen Verhältnissen verdanken und deren Karriere auch jetzt, spätestens in einem Jahr, zu Ende geht.