Jura aus der Grunge-Garage

Das ZDF hat einen neuen Schauprozeß im Programm. "Streit um drei" ist noch schnarchiger als das "Verkehrsgericht"

Zum unerläßlichen Programm deutscher Sozialkundelehrer gehörte bis Mitte der achtziger Jahre ein Gerichtsbesuch mit der Klasse. Denn der hatte für den Pädagogen nur Vorteile: Der Lehrer konnte später als gewöhnlich aufstehen, mal einen Tag dem häßlichen, asbestbelasteten Betonbau, in dem er sonst den Vormittag verbringen mußte, fernbleiben und überdies den Klassentunichtguten immer mal wieder ein "Paß nur genau auf, so wirst du auch eines Tages enden" zuzischen. Und sich dabei immer noch ganz sicher sein, einen pädagogischen Auftrag erfüllt zu haben.

Den Schülern war sowieso alles recht, wenn sie nur mal ein wenig Abwechslung von der Schule hatten. Daß diese Gerichtsbesuche für alle Beteiligten enervierend langweilige Angelegenheiten waren, störte da wenig. Obwohl es sich bei den vor irgendeinem niederwestfälischen Gericht ausgetragenen Fällen niemals um Verbrechen handelte, von denen man gewöhnlich in der Zeitung las - Mord, Eifersuchtsdramen und Milliarden-Veruntreuung etwa -, sondern immer bloß um gemeinen Diebstahl, Beleidigung oder das Nichtbeachten von Tempo-Limits.

Mit aufwendigen Verfahren, wie man sie aus Filmen wie "Die zwölf Geschworenen" kennt, hatte die Echtzeit-Juristerei nicht das geringste zu tun. Nie tauchten windige Zeugen auf, deren Entlarvung als gekaufte Lügner erst dem besonders gerissenen Staatsanwalt oder dem findigen Verteidiger im Kreuzverhör gelang. Und berühmte letzte Worte wie das "Verurteilen Sie mich! Die Geschichte wird mich freisprechen!" (Fidel Castro) waren den durchweg unglamourösen Angeklagten von vornherein nicht zuzutrauen.

Die Angeklagten in solchen Schüler-Schauprozessen sind durchweg geständig, der Staatsanwalt läßt angesichts der Einfachheit des Verfahrens seinen Azubi plädieren, und der Verteidiger reißt mit seinem Klienten Witzchen.

Ähnlich langweilige Verhandlungen kannte man schon aus dem deutschen Fernsehen, z.B. im "Königlich Bayrischen Amtsgericht", dem Quotenrenner der Mittsiebziger. Auch dort ging es eher um minder schwere Delikte, wie im Vorspann schon angedeutet wurde. "Und auf die Guillotine hat unser Herr Richter eh niemanden geschickt", hieß es da. Entsprechend gelassen ging man in der Serie ans Werk. Immerhin gab es regelmäßig was zu lachen, wenn sich einer der Seppln oder eine der Vronis besonders blöd anstellte.

Bei den anderen Serien, meist Verfilmungen authentischer Fälle, wie in "Ehen vor Gericht" oder "Das Verkehrsgericht tagt", nahm man das Thema dagegen sehr ernst. Ausführlich wurden die verschiedenen Aussagen, Paragraphen und Grundsatzentscheidungen diskutiert und analysiert, die Schauspieler legten sich wirklich ins Zeug und mimten helle Empörung, gekränkte Unschuld oder naives Nichtwissen, was anschließend von Rechtsexperten kommentiert wurde.

Für Jurisprudenz in der verschärften Version war dagegen die Serie "Wie würden Sie entscheiden?" zuständig. Das Studiopublikum, das grundsätzlich aus Teilnehmern der Volkshochschulkurse "Recht I-IV" bestand, konnte hier vor der Urteilsverkündung eigene Statements abgeben, in denen es das bisher Gelernte brav verarbeitete. Der Kursleiter stand immer demonstrativ daneben, manchmal mit roten Ohren, denn die legal analysts lagen in ihrem Urteil oft ziemlich daneben, wie auch das Ergebnis der Studioumfrage zeigte.

Insgesamt schien das Genre jedoch nicht weiter entwicklungsfähig zu sein. Neidisch nahm man zwar die Live-Übertragungen von Prozessen in den US-amerikanischen court channels zur Kenntnis, verwies aber gleichzeitig darauf, daß eine Kommerzialisierung des Rechtssystems in Deutschland weder erwünscht noch durchsetzbar sei. Das Verfahren gegen O.J. Simpson wurde gleichwohl auch in der BRD verfolgt, den Urteilsspruch sendeten gleich mehrere Sender live - mit sehr guten Einschaltquoten.

Nach dem "not guilty" für Simpson war dann jedoch kein weiterer spektakulärer Prozeß in Sicht, das Publikums-Interesse mußte sich wieder anderen Dingen zuwenden. Als Simpson-Ersatz bietet das ZDF neuerdings die nachmittägliche Serie "Streit um drei" an. Dabei handelt es sich um verfilmte Gerichtsprozesse, die vom immerselben Richter, den der Schauspieler Eugen Menken gibt, entschieden werden - authentische Fälle, wie man überhaupt beinahe verzweifelt den Eindruck von Echtheit zu vermitteln versucht.

Ehemaligen Sozialkunde-Kurs-Teilnehmern wird das alles verdammt bekannt vorkommen, denn es geht hier um Konflikte, die eigentlich keine sind, es sei denn, man ist ein notorischer Rechthaber mit eher untypisch ausgeprägtem Rechtsempfinden. Denn natürlich sollte man z.B. als Ex-Freundin aus der ehedem großzügig überlassenen mietfreien Wohnung irgendwann ausziehen und nicht auf eine Eigennutzungsklage des mittlerweile schon seit grob anderthalb Jahren Verflossenen warten. Denn so eine Klage hat nicht nur Erfolg, sondern verursacht auch Kosten, aber um solch profane Dinge wie Realismus und Kosten-Nutzen-Abwägung geht es weder im richtigen Leben noch im "Streit nach drei".

Deswegen landet auch die Klage gegen Herrn Bauer vor dem ZDF-Gericht. Der ist Bastler und werkelt gern in seiner zum Hobbyraum umfunktionierten Garage herum. Seinen Nachbarn Helmut Leutner stört das ständige Bohren und Sägen jedoch, deswegen ist nun ein Gerichtstermin fällig. Vor einem Richter, der auf sowas grundsätzlich genervt reagiert.

"Wie sehen Sie dann die Jeschichte?" fragt er Bastler Bauer im breitesten Kölsch, reagiert auf dessen Schilderungen mit unmotivierten "Jjas" und kratzt sich ausdauernd am Bart. "Et wird also schonma'n bißschen jesächt?" sekundiert er dem Angeklagten, und dem Fernsehzuschauer wird klar: Die Sympathien des Richters, der von der Version des Klägers, welcher detailliert Uhrzeiten und Geräuschpegelstände vorträgt, noch genervter ist, sind klar verteilt.

Erfahrene "Streit um drei"-Zuschauer kennen das schon. Denn wenn der Richter eins nicht leiden kann, dann sind das Yuppies, die sich lang und breit über anderer Leute Verfehlungen auslassen und gegenüber den zumeist älteren Kleinbürgern arrogant auftreten. So etwas endet in der Regel mit einem Freispruch für den Beklagten, was sich auch im Fall Leutner vs. Bauer abzeichnet. Zumal der Bastler das Ergebnis seiner Ruhestörung vorzeigen kann, ein rundes Ding mit Spitzen, an dem er mit dem Sohn des Klägers stundenlang gearbeitet hat, damit es Frau Leutner als Geburtstagsgeschenk überreicht werden kann.

"Dat is doch schön", befindet der Mann in der Richterrobe, während er in seinen Ohren popelt und fragt: "Wat is dat?" - "Ein Windspiel." Und daraufhin hat der ruhebedürftige Neureichling keine Chance mehr, auch wenn er entschieden darauf beharrt, daß er Bauer verboten hat, mit seinem Sohn zu heimwerken. "Wenn Herr Bauer in seiner Jarasche werkelt, dann zerlecht er nicht die Schwiejermutter", sondern verhält sich völlig legal, lautet schließlich das Urteil, denn "haumwöking ist die Beschäftigung vieler Männer, die zum Teil schöne Dinge produzieren".

Und danach schlägt die große Stunde für Moderator Ekkehard Brandhoff. Im Stile eines "Explosiv"-Reporters interviewt er, geschickt übergeleitet ("In einer Garage ist schonmal ein neuer Musikstil, der Grunge, entstanden. Manche fanden das Kunst, manche Lärm") die Darsteller des Klägers und des Beklagten, die mit dem Urteil "zufrieden" respektive "sehr unzufrieden" sind. Und Brandhoff läßt auch Zuschauer-Statisten zu Wort kommen, die in der Erwartung, fürs Fernsehen entdeckt zu werden, ihr Letztes geben und wahlweise gerechte Empörung oder tiefe Zufriedenheit darstellen. Und fest an ihr Tun glauben.

Wie Brandhoff, der nun, gemeinsam mit dem ZDF-Rechtsexperten Böser das tut, was zwei bei diesem Sender angestellte Männer seit Hauser und Kienzle immer tun müssen: Abgesprochene Scherze machen. "Sie sprachen von Brunch in der Garage", eröffnet Böser also den witzigen Wortwechsel, "hat's geschmeckt?" "Nein", antwortet Brandhoff schlagfertig, "ich sprach von Grunge, das ist eine Musikrichtung." Und schon folgt der Abspann. Live-Gerichtsbesuche sind lustiger.