Ein Jude in Deutschland

Ignatz Bubis Resümee nach sieben Jahren Amtszeit: Von der Unmöglichkeit, ein jüdischer Deutscher zu sein

Ignatz Bubis sitzt im Rollstuhl. Der schwere Kopf ist tief zwischen die Schultern gesunken, mühsam nur wendet er das Gesicht dem Betrachter zu. Von der Nasenwurzel geht eine steile Falte aus, der Blick ist resigniert und verschlossen, der Mund hat einen harten, verbitterten Zug. Die kräftigen Hände hat Bubis im Schoß gefaltet, mehr abwehrend denn untätig. Die Ärmel des hellblauen Hemdes sind bis unter die Ellenbogen hochgekrempelt, Unterarm und Handrücken sind übersät mit Altersflecken. Den Hintergrund bildet eine grüne Pflanzenwand: Ein zugewuchertes, vergittertes Fenster; Efeu, Knöterich und einige rote Rosen, die wirken, als hätte sie der Fotograf plaziert, um dem düsteren Ambiente etwas Glanz zu verleihen. Es hat nicht funktioniert. Man denkt an Friedhof, an Alter, Gebrechlichkeit und Tod. Die blutroten Blüten verstärken diesen Eindruck noch.

So präsentierte der stern in der vergangenen Woche auf zwei Seiten den Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland. Das Bild eines geschlagenen Mannes, eines Mannes, der am Ende seiner Kräfte ist. Als Schlagzeile dazu ein Zitat aus dem Interview, das auf den folgenden beiden Seiten zu lesen ist: "Herr Bubis, was haben Sie bewirkt? 'Nichts, fast nichts'".

Als Ignatz Bubis vor sieben Jahren die Nachfolge Heinz Galinskis an der Spitze des Zentralrats übernahm, wollte er vor allem eines bewirken: Eine Normalisierung im Verhältnis der nichtjüdischen Deutschen zu ihren jüdischen Mitbürgern. "Wie wird man Deutscher?" fragte er die stern-Reporter. "Wie wird man katholisch, wie evangelisch? Habe ich mir meine Religion ausgesucht? (...) Eine Biographie trägt auch immer die Handschrift des Zufalls." Nicht ein deutscher Jude wollte das FDP-Mitglied sein, sondern ein jüdischer Deutscher, einer, der dazugehört zum Kern dieser Gesellschaft. Einer, der sie nicht von außen kritisiert, wie das bei dem Auschwitz-Überlebenden Galinski häufig wirkte, sondern als Deutscher.

Bei Hunderten, wahrscheinlich Tausenden von Veranstaltungen ist Ignatz Bubis in den Jahren seit seiner Wahl aufgetreten, und stets hat er sich die Verantwortung für die deutsche Geschichte selbst mit aufgebürdet. Stets hat er das "Wir" benützt, wo das "Ihr" längst angebracht gewesen wäre: "Wir müssen schon aufpassen, die Demokratie fließt nicht in unserem Blut."

Die Demokratie in ihrer bürgerlich-liberalen Variante, das ist noch immer Bubis' Leitbild. In ihr glaubt er das Heilmittel gegen ein Wiedererstarken des Extremismus gefunden zu haben - eines Extremismus, der ihm in einigen seiner linken Varianten spätestens in den siebziger Jahren suspekt geworden sein muß, als er von den Frankfurter Häuserkämpfern um Joseph "Joschka" Fischer als Vertreter des "jüdischen Spekulantentums" angeprangert wurde. Als 1985 teilweise dieselben Leute für die Aufführung des antisemitischen Fassbinder-Stücks "Der Müll, die Stadt und der Tod" kämpften, in dem zumindest im Frankfurter Kontext die Figur "ein reicher Jude" nur als Chiffre für Bubis verstanden werden konnte, dachte er ein erstes Mal ernsthaft an Auswanderung. Damals fand er eine andere Lösung: Zusammen mit weiteren Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde verhinderte er mit einer Bühnenbesetzung die Aufführung des Stückes. Die besetzten Ex-Besetzer staunten.

In den späteren Auseinandersetzungen um Martin Walsers Schlußstrich-Rede in der Frankfurter Paulskirche, um das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas, um die sogenannte Entschädigung für Zwangsarbeit und KZ-Haft war so etwas nicht mehr möglich. Immer ging es auch um die Rolle, welche die Juden in der Gesellschaft der Bundesrepublik spielen sollten. Seit der deutschen Vereinigung war Bubis mit einem erstarkenden Antisemitismus konfrontiert, der sich nicht nur in Hunderten von Anschlägen auf jüdische Friedhöfe und Synagogen, in Wandschmierereien und einer nicht abreißenden Kette antisemitischer Anrufe in seinem Büro äußerte, sondern auch in Äußerungen von Politikern der regierenden Parteien.

"Wer ist Ignatz Bubis?" brüllte der CSU-Politiker Wolfgang Zeitlmann am 19. März im Bundestag, als die Grüne Kerstin Müller darauf hinwies, daß auch Bubis die rassistische Unterschriftenkampagne der Union gegen die deutsche Staatsbürgerschaft kritisiert hatte. Bubis hat all das abgewehrt: Er hatte eine Mission zu erfüllen, und daß er den Haß der offenen wie der latenten Antisemiten auf sich zog, galt ihm als Beweis, daß er auf dem richtigen Weg war. Nur gelegentlich schien etwas Resignation durch. Als Möglichkeit im Extremfall hat er immer wieder die Auswanderung erwähnt. Und nun der Entschluß zu einer Auswanderung zumindest post mortem: "Ich möchte in Israel beerdigt werden, weil ich nicht will, daß mein Grab in die Luft gesprengt wird - wie das von Heinz Galinski."

Heute, sagt Bubis, habe er mehr Verständnis für Galinski als früher. "Er hatte Auschwitz im Herzen, er war auf die Vergangenheit fixiert, das muß man verstehen. Ich wollte diese Phase überwinden, ich habe versucht, Vergangenheit und Zukunft zu verbinden. Heute bin ich Galinski näher, auch, was das Verbittertsein anbetrifft."

Bubis' Verbitterung ist nicht nur das Produkt einer Bandscheibenoperation, eines Schenkelhalsbruchs und einer Thrombose, die ihn an den Rollstuhl fesseln, den Arbeitssüchtigen von der Arbeit abhalten und seine Abwehrkräfte schwächen. Er erkennt vielmehr sehr genau die subtilen Unterströmungen einer Zeit, die bei oberflächlicher Betrachtung eine ganze Reihe von Erfolgen für die Juden in Deutschland bringt: Durch den Zuwachs aus Osteuropa hat die jüdische Gemeinde an Gewicht gewonnen, das Holocaust-Mahnmal soll endlich gebaut werden, die ehemaligen Zwangsarbeiter kommen einer Entschädigung näher.

Doch all das sind, das hat Bubis erkannt, Oberflächlichkeiten. "Die heutige Politikergeneration", sagt er dem stern, und er bezieht sich dabei explizit auf Bundeskanzler Gerhard Schröder, "möchte auf eine sanfte Walser-Tour das Ganze zurückdrehen. (...) Schröder hat nach der Bubis/Walser-Debatte sinngemäß gesagt, jetzt, nach dieser Diskussion, müssen wir das Mahnmal bauen. Das hört sich so an, als ob die Regierung den Bubis nicht im Regen stehen lassen könne. Dabei ist das kein Bubis-Mahnmal. (...) Es gab die Meinung: Laßt endlich mal Ruhe damit. Nun baut das Mahnmal! Weg damit! Nur für die Juden. Okay, runter vom Tisch! Es war auch hier Schlußstrich-Debatte."

Einen Schlußstrich soll auch der Entschädigungsfonds für die ehemaligen Zwangsarbeiter und überlebenden KZ-Häftlinge darstellen - das weiß Bubis, auch wenn er es klugerweise vor einer Einigung mit der deutschen Regierung und den Konzernen nicht ausspricht. Die Generation Schröder will das Thema ein für allemal unter der Rubrik "erledigt" abheften. Im Gegensatz zu den Hardlinern aus der alten Union will sie sich aber nicht die Mühe machen, die Geschichte einer Revision zu unterziehen, sie will schlicht sagen: Ja, es war wohl so, aber das ist fünfzig, sechzig Jahre her. Wenn Sie das interessiert, gehen Sie an unser Mahnmal, dort können Sie betroffen sein. Schauen Sie sich unser Dokumentationszentrum an: Wir verschweigen nichts. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muß wieder zum Modernisieren gehen.

Was für die Politik gilt, trifft, so Bubis, auch auf die breite Bevölkerung zu: "Im öffentlichen Bewußtsein ist die Verantwortung für Auschwitz nicht verankert. Jeder in Deutschland fühlt sich verantwortlich für Schiller, für Goethe und für Beethoven, aber keiner für Himmler. Ein Großteil der Bevölkerung denkt wie Martin Walser. Ende. Zeit, Schluß zu machen, nur noch nach vorne schauen." In der Berliner Boulevardzeitung B.Z. fügte er hinzu: "90 Prozent der Durchschnittsbevölkerung sehen in mir den Bubis mit der Rute, der uns Mores beibringen will. Sie verstehen nicht, daß es mir um ein Miteinander geht, nicht um ein Nebeneinander."

"Ich habe immer herausgestellt", sagte Bubis dem stern, "daß ich deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens bin. Ich wollte diese Ausgrenzerei, hier Deutsche, dort Juden, weghaben. Ich habe gedacht, vielleicht schaffst du es, daß die Menschen anders übereinander denken, anders miteinander umgehen. Aber nein, ich habe nichts bewegt."

Als erster jüdischer Repräsentant in der Bundesrepublik Deutschland wollte Ignatz Bubis ein jüdischer Deutscher sein. Und ist doch nur geblieben, wozu die Deutschen ihre Juden machen: ein Jude in Deutschland.