Pokerspiel im Glaspalast

Das EU-Parlament ist auf Demokratie-Feldzug. Regionalisten und Nationalisten bilden mit den Grünen eine gemeinsame Fraktion

Eine neue Botschaft soll von Strasbourg ausgehen: Wir sind jetzt wer. Und die Demokratie liegt uns mehr denn je am Herzen. Das ist jedenfalls die einhellige Meinung des frischgewählten Europaparlaments, das sich vor zwei Wochen im gerade fertiggebauten Glaspalast zu seiner ersten Sitzung traf. Bei der Wahl zum neuen Parlamentspräsidenten wurde prompt mit alten Bräuchen aufgeräumt.

Seit 17 Jahren waren diese Wahlen eine reine Formsache. Die Fraktionen der Sozialdemokraten (SPE) und der Christdemokratischen Volkspartei (EVP) einigten sich auf zwei Kandidaten, sprachen sich ab und teilten sich die fünfjährige Amtszeit auf. Anders in diesem Jahr. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte war die EVP mit 233 Abgeordneten zur stärksten Fraktion im Parlament geworden.

So gestärkt wagte man ein Pokerspiel: Ohne auf die früheren Verbündeten von der liberalen Fraktion zu bauen, schickten die Christdemokraten mit Nicole Fontaine eine Frau in die Euro-Arena. Die Rechnung ging auf: Fontaine schlug ihren sozialdemokratischen Konkurrenten mit 306 zu 200 Stimmen. Künftig werde das Parlament der Kommission und dem Ministerrat das Leben schwer machen, kündigte die frischgewählte "Jeanne d'Arc von Strasbourg" an.

"Demokratiedefizit" - dieser Vorwurf hing stets über der EU, dessen Parlament man nachsagte, es habe in Wirklichkeit nichts zu sagen. Das zu verändern, hatte sich vor allem Euro-Kanzler Helmut Kohl auf seine Fahnen geschrieben. Er setzte sich (oft gegen den Willen von Frankreich) für ein "Empowering-Programm" des Parlaments ein, dessen Mitglieder alle fünf Jahre in den nunmehr 15 EU-Staaten neu gewählt werden. Seit es die EU gibt, werden die wichtigsten Entscheidungen in der Kommission und den Ministerräten gefällt.

Beide sind dem Wahlvolk nur indirekt verpflichtet: In die Kommission entsenden nationale Regierungen je nach Ländergröße einen oder mehrere Kommissare. Im Ministerrat sitzen zwar gewählte MinisterInnen, die Verhandlungen laufen jedoch unter Ausschluß der Öffentlichkeit ab. Rechenschaft sind die VolksvertreterInnen deshalb kaum jemandem schuldig. Oft bleibt geheim, wer für oder gegen einen bestimmten Punkt gestimmt hat.

"Der Vertrag von Maastricht räumt dem Parlament mehr Rechte ein, und die werden wir maximal ausnutzen", so Nicole Fontaine nach ihrer Wahl. In der Tat besitzt das neue Europaparlament in vielen Bereichen eine Entscheidungsgewalt, die dem Rat oder der Kommission fast ebenbürtig ist. Doch nicht nur die komplizierte Prozedur des Einspruchsrechts dürfte der demokratischen Praxis des öfteren im Wege stehen. Die Gleichberechtigung gilt nicht in allen Bereichen: Nicht entscheiden darf das Parlament, wenn es um den Euro, die Außenpolitik und die gemeinsame Sicherheit geht.

Abgesehen von diesen "kleinen" Makeln werden große Teile des neuen europäischen Repräsentantenhauses auch in dieser Legislaturperiode vor allem nationale Ziele verfolgen: Zählt man die gemäßigten konservativen Fraktionen wie Christdemokraten, Liberale, Union für Europa und Unabhängige für das Europa der Nationen zusammen, ist das Übergewicht im Verhältnis zu dem, was sich von Sozialdemokraten über Grüne bis Vereinigte Linke tummelt, beachtlich. Dieses neue Kräfteverhältnis läßt vor allem eins erwarten: Die Mehrheit im Parlament wird die Vorschläge aus den oft sozialdemokratisch dominierten Ministerräten torpedieren. Denn in zehn von 15 Mitgliedsstaaten sind sozialistische Parteien in der Regierung.

Das Resultat der Europawahl gab ebenfalls das Startsignal für ein neues Fraktionsgerangel. Der Fraktionsstatus ist vor allem deshalb attraktiv, weil nur er das Recht auf den Posten einer parlamentarischen Kommissionspräsidentschaft beinhaltet und ihm zudem eine größere personelle und technische Unterstützung zusteht.

Diesen Status gibt es allerdings erst, wenn sich mindestens 18 Abgeordnete aus drei verschiedenen Mitgliedstaaten oder 14 aus vier verschiedenen Staaten zusammenschließen. Vor allem die kleineren Parteien waren deshalb in den letzten Wochen im Pool der rund 40 sogenannten "Non-Inscrits" auf Fischfang.

Besonders bunt trieb es die frühere Kommissarin Emma Bonino, die auf der italienischen Liste Pannella-Riformatori kandidierte. Ihre Partei gehörte bislang der Fraktion Radikale Europäische Allianz an, die vor fünf Jahren von dem mittlerweile skandalgebeutelten Franzosen Bernard Tapie gegründet worden war. Nachdem vor allem französische VertreterInnen der Tapie-Liste sich von der Allianz getrennt hatten, reichten die noch verbliebenen 14 Sitze nicht mehr zur Fraktionsbildung. Bonino schlug vor, sich mit fraktionslosen Rechten - etwa von Le Pen, Jörg Haider und dem Vlaams Blok oder mit den Regionalisten und den Nationalisten, darunter auch der Eta-nahen Eusko Alkartasuna - auf einer rein "technischen" Ebene zusammenzuschließen, um Fraktionsgröße zu erreichen.

Das Vorhaben scheiterte vorerst - unter anderem, weil Jörg Haiders Gefolgschaft sich weigerte, mit Lepenisten auf einer Bank zu sitzen. Auch Eusko Alkartasuna zog sich nach einigem Zögern zurück und schloß sich statt dessen den europäischen Grünen an. Ganze zehn neue Mitglieder konnten diese in ihr Fraktionsboot ziehen.

Neu hinzu kamen bei den Grünen sogenannte "Regionalisten", mit denen es Gemeinsamkeiten im Bereich der "nachhaltigen Wirtschaft" oder der "Verteidigung des Rechts auf Selbstbestimmung" gibt. Dazu gehören auch Mitglieder der Scottish National Party, des Partido Andalucista und Bloque Nacionalista Gallego aus Spanien sowie der flämischen Volksunie. Sowohl Volksunie als auch Scottish National Party waren zuvor in der Europäischen Allianz vertreten.

Ein strategisch nicht ganz unwichtiger Schritt, der die Grünen mit nunmehr 47 Abgeordneten zur viertstärksten Fraktion im Parlament macht. Das bedeutet nicht nur, daß sich die Redezeit um wertvolle Minuten verlängert, sondern bestimmt auch, wer im Glaspalast künftig wann reden darf: Die Startposition auf der Redeliste wird ebenfalls nach der Größe der Fraktion bestimmt.