Telefon im Taubenschlag

Als ihm 1951 seine erste Brieftaube zuflog, stand in Essen hinter fast jedem Zechenhäuschen noch ein Taubenschlag. Heute gehört Manfred Sander zu einer aussterbenden Spezies

Glückauf heißt die Siedlung, Bergmannsglück die Straße. Die alten Zechenhäuschen im Essener Norden haben sich gut versteckt. Hinter weißem Putz, frischen roten Ziegeln und hellen Kacheln. Keine 600 Meter entfernt werden sie von zwei Fördertürmen der Zeche Zollverein überragt. "Mit dem eckigen Turm haben wir manchmal 20 000 Tonnen am Tag von unten geholt", murmelt Manfred Sander (66). 1985, ein Jahr, bevor die Zeche Zollverein als letzte Grube Essens dichtmachte, ging er in Pension.

In Jogginghose schlendert Sander durch seinen Garten. Im Taubenschlag gurrt es, Dienstag früh, Zeit für die Fütterung. Schließlich müssen die Vögel am Sonntag gut 400 Kilometer zurücklegen. Die Tauben sind Sander aus seiner Bergmannszeit geblieben. Seit 48 Jahren züchtet er sie und schickt sie auf Rennflüge.

Wie Sander greifen bundesweit 80 000 andere Züchter jeden Morgen für ihre Tauben ins Korn, 25 000 davon allein im Ruhrgebiet. Belgische Taubenväter waren es, die um 1800 die ersten Rennflüge organisierten. Von dort schwappte die Taubenwelle ins Ruhrrevier, wo ab 1880 Kohlekumpel begannen, die ersten Züchtervereine zu gründen.

In einem weiß verputzten Steinhäuschen wohnen die Tauben. Früher hielten Bergmannsfamilien in diesen Ställen Schafe, Schweine, Gänse, Hühner. Innen ist es hell. Und was so penetrant nach Menthol riecht, ist Anti-Ungeziefer-Spray - immerhin hausen hier gut 100 Tiere: links am Einflug die Taubenmänner, die als einzige hier zu Wettflügen antreten, hinten die Taubenfrauen und oben im Spitzdach die Jungtäubchen.

Am Eingang stehen Holzkisten, gefüllt mit Weizen, Gerste und anderen Körnern. Vor den Wettkämpfen gibt es Kohlenhydrate, danach Eiweiß zum Aufbauen. Sander streut jeder Flugtaube eine Handvoll Körner hin. Eine pickt aus seiner Hand - "mein bester Mann", sagt Sander. Richtiges Frühstück gibt es erst nach dem Training - was einer Stunde Fliegen am Tag gleichkommt. Sander öffnet den Einflug, die Männchen flattern davon.

Kurz nachdem er Taubenvater geworden war, begann Sander, unter Tage zu schuften. 1951 flog ihm eine Brieftaube zu. Hinter fast jedem Zechenhäuschen stand damals ein Taubenschlag. Am Samstag setzte die halbe Siedlung ihre Tauben in die Transportboxen, sonntags war man im Preislokal. Für fünf Mark kaufte Sander sich ein Taubenweibchen, hielt das Pärchen in Großvaters alter Schreinerei. Nach einem Jahr hatte er sechs Tauben, nach zwei Jahren 16. Mehr wurden es auch nicht, als er noch unter Tage arbeitete. Im Ruhestand gönnte er sich dann an die 100. "Das ist ja genauso spannend wie beim Rennpferd. Ich züchte, pflege, schicke meine Tiere los und hoffe, daß sie besser als die andern sind. Als ich früher kaputt von der Arbeit unter Tage kam, war im Taubenschlag alle Anspannung weg."

Sander spricht murmelnd zu seinen Tierchen. "Man kann ihnen alles sagen. Sie verstehn's zwar nicht, aber sie schauen dann ganz lieb und sind zahm." Zwar heißen sie alle Hansi, doch Sander erkennt jede - "die bewegen und benehmen sich doch ganz unterschiedlich". Sogar sein Telefon hat er im Taubenschlag stehen. Immerhin verbringt er hier mehr als vier Stunden am Tag. Der Schlag ist saubergefegt. Sander öffnet den Einflug, pfeift und ruft die Hansis. Langsam trudeln sie vom Training ein, entspannen vor ihren Käfigen. In fünf Tagen beginnt das Rennen.

Samstag mittag. Die Tauben werden in den Transporter eingeladen, der sie zum Abflugort bringt. Im grauen Kombi rollt Sander auf den Katernberger Hinterhof der Einsetzstelle seiner Reisevereinigung. In einer hohen, dämmrigen Holzscheune stapeln sich die Holzkisten mit den Tauben. Sander stellt seine dazu. Gut 20 alte Herren sind versammelt, laufen zwischen den Kisten umher, sitzen mit Pils in der Hand an verkratzten Holztischen. Hinter ihnen blättert die weiße Farbe von den Wänden. Eine vergilbte Ehrenurkunde hängt da: "Gewidmet der Vereinigungswirtin Elisabeth Groote, 1957".

"Eigentlich brauchen wir die große Halle doch nicht mehr. Unseren eigenen Aussetzwagen mußten wir schon lange abgeben. Wir sind ja nur noch 16 aktive Züchter. Vor 20 Jahren waren wir noch 200." Hans Horstig (79) blickt traurig aus triefig-blauen Augen. Zusammengesunken sitzt er da, auf seinen Stock gestützt, flüstert. Seit 51 Jahren züchtet er Tauben. "Das stirbt langsam aus. Früher wohnte hier jeder zweite im Zechenhäuschen mit Stall. Da konnte man ohne Probleme Tauben halten. Aber die Leute wollen das heute gar nicht mehr. Mein Sohn will, daß ich die Tiere weggebe. Aber sie sind das einzige, was mir noch geblieben ist. Die paar Jahre wird es wohl noch gehen." Horstig nimmt erst mal einen Schluck Pils.

Die letzten Tauben werden registriert. Sander reicht sie einzeln dem Einsetzer, der Computer liest die Identifikationsnummern der Tiere aus dem Fußring. Dann werden sie in die Transportkisten gepackt. Sanders bestes Tier, der Aus-der-Hand-Picker, zappelt ganz besonders. Sander ist sich sicher: "Der wird einen guten Preis machen mit so einem Heimweh." Motiviert sind die Täuberiche dank der klassischen Witwermethode: Nur kurz vor der Abreise ist es ihnen vergönnt, mit ihrem Frauchen zu kuscheln - was sie sich sputen läßt.

Jetzt zückt Sander eine Flasche Metaxa, drückt sie dem Werner in die Hand. Werner wird heute 65 - und überwacht im Blaumann wie jeden Samstag das Taubeneinsetzen. "Kannste dir mal nen Schnaps trinken", lacht Sander. Die versammelte Runde köpft darauf die Pilsflaschen. Hans Steinröder mit besonderem Genuß. Der 78jährige in blauer Adidashose, kariertem Hemd und Honeckerbrille sehnt sich auch nach der guten alten Zeit: "Da hatten wir noch richtig Spaß, da wurde Kohle auf die Vögel verwettet. Immer ein paar Tausender." Heute sind es bloß 42 Mark. Die Züchter wetten kaum noch. Flüge sind Hobby, das Geld sitzt nicht mehr so locker. Steinröder beißt sich durch, "hält mich ja nix außer den Tieren am Leben".

Der Taubenlaster ist da. 4 000 Tiere aus dem Ruhrrevier fährt er in ihren übereinandergestapelten Transportkäfigen nach Jesewitz. Morgen früh gegen sechs werden sie ausgesetzt. 400 Kilometer Luftlinie sind es nach Essen. Die 417 Tiere der Katernberger sind registriert und abgepackt. In zehn Minuten sind sie in den Lkw geschoben.

Sonntag mittag in der "Zollverein Klause". Auf einem Billardtisch im Halbdunkeln ist ein Laptop aufgebaut. In jedem Taubenschlag hat ein Lesegerät die Identifikationsnummern der ankommenden Tauben registriert. Die endgültige Siegerliste ist zwar erst am Mittwoch berechnet, doch wer gewonnen hat, wissen die Veteranen jetzt schon. Heute zählen alle eher zu den Verlierern. Ein Drittel der Tauben fehlt noch. Einige kommen spät, einige nie. Manchmal reichen weder das Magnetfeld der Erde, ultraviolette Lichtmuster am Himmel, polarisiertes Sonnenlicht, Gerüche oder Landmarken zur Navigation.

Manfred Sander grinst. Sein Favorit, der Aus-der-Hand-Picker, hat den vierten Platz gemacht. Für Siege gibt es zwar kein Geld, aber Ruhm. Der Held des Schlags bleibt jedoch verschollen. 37 Siege in drei Jahren. Sander: "Zum Abendessen ist der wieder da. Bestimmt." Die Anekdoten sind erzählt. Sander wird schwermütig: "In die Kneipe kommen die jungen Leute ja auch nicht mehr. Wie mit den Brieftauben." Auf dem Weg nach Hause geht er an der Zeche Zollverein vorbei. Touristen stehen da, schauen sich die Vergangenheit an, wollen ins Designzentrum. Sander war seit 1985 nicht mehr da. "Da gehöre ich nicht mehr hin."