Voll verpflegt

Vorreiter Berlin: In DRK-Flüchtlingsheimen der Hauptstadt müssen Flüchtlinge essen, was ihnen der Lieferservice vorsetzt

"Schnellstmöglich" und - wenn sie das nicht einsehen - "auch unter Zwangsmaßnahmen" möchte Innenminister Otto Schily (SPD) die Rückkehr der Kosovo-Flüchtlinge in die Wege leiten. In Berlin hat der Zwang schon begonnen - zumindest für die Flüchtlinge, die nicht Teil des offiziellen Kontingents von bundesweit knapp 15 000 Kosovo-AlbanerInnen sind, sondern sich auf eigene Faust bis nach Deutschland durchgeschlagen haben. Sie alle fallen unter die letzten Sommer verschärften Bestimmungen des Asylbewerberleistungsgesetzes - das in Berlin nun eine neue Weiterung erfährt.

Bis vor kurzem erhielten erwachsenene Bürgerkriegsflüchtlinge noch monatlich 80 Mark Bargeld. Kindern und Jugendlichen zahlten die Sozialämter die Hälfte aus. Der Rest des mit den Verschärfungen gekürzten Sozialhilfesatzes steckt in Chipkarten oder steht auf Warengutscheinen. Eingelöst werden können sie nur bei bestimmten Handelsketten oder einer Handvoll türkischer und arabischer Einzelhändler - und zwingen die Flüchtlinge zum teureren Einkauf. Viele der Gutscheine sind auf 200 Mark ausgestellt. Der Betrag muß vollständig ausgegeben werden, da der Rest nicht in bar herausgegeben werden darf, sondern einfach verfällt. Doch dieses System scheint den meisten Bezirksämtern und dem Berliner Senat nun nicht mehr restriktiv genug.

Als Vorreiter für diese Senatspolitik betätigte sich das Bezirksamt Spandau, das mit dem Deutschen Roten Kreuz (DRK), einem der Großverdiener im Flüchtlings- und Asylbereich, Ende Juni neue Verträge für die Unterbringung von Kriegsflüchtlingen in zwei DRK-Heimen aushandelte. Chipkarten und Warengutscheine gibt es dort seitdem nicht mehr - die Flüchtlinge in den DRK-Heimen werden "voll verpflegt".

Was das bedeutet, schilderten die vor dem Bürgerkrieg Geflohenen bei der Begehung einer Unterkunft im Berliner Bezirk Pankow vor zwei Wochen. Auf dem weißen Plastikteller vor Goran E.* liegen vier zerkochte Kartoffeln, ein kleines Stück Fleisch in einer undefinierbaren braunen Soße und einige Blumenkohlstücke. Der 32jährige Kosovo-Albaner hat sein Mittagessen vom Vortag aufgehoben, um zu erklären, warum die rund 150 dort lebenden Bürgerkriegsflüchtlinge die seit dem 1. Juni geltende "Vollverpflegung" ablehnen. In den vergangenen Wochen haben sie das Essen verweigert, die Straße blockiert und gemeinsam mit UnterstützerInnen die DRK-Zentrale besucht und gegen ihre Lebensbedingungen protestiert.

Goran E. und seine schwangere Ehefrau haben keine Wahl: Zweimal täglich erhalten sie einen Beutel mit mehreren Scheiben Weißbrot, Butterstückchen und einem Paket Wurst- und Käsescheiben. Dazu gibt es lose Teebeutel, manchmal einen Apfel oder eine Banane. Als Schwangerschaftszukost erhält Emine E. zusätzlich einen halben Liter H-Milch. "An einigen Tagen geben mir die Betreuerinnen auch eine Kiwi oder einen Apfel mehr, wegen der Vitamine", erzählt Emine E. und lächelt etwas ratlos. Die 80 Mark Bargeld, die das Sozialamt bislang bezahlte, braucht sie vor allem, um Fahrkarten für die Wege zum Sozialamt, zum Arzt und der Ausländerbehörde zu bezahlen. Was übrig bleibt, spart sie für Telefongespräche und um die Rechtsanwaltskosten für das Aufenthaltsverfahren begleichen zu können.

Täglich liefert jetzt eine Cateringfirma das Essen für die rund 150 Menschen in dem Pankower DRK-Heim. Doch selbst die MitarbeiterInnen, die die Qualität der Mahlzeiten verteidigen, sind mit der Regelung grundsätzlich unzufrieden. "Für uns bedeutet das einen zusätzlichen Verwaltungs- und Arbeitsaufwand. Außerdem sind wir ständig der Kritik der Flüchtlinge ausgesetzt", sagt eine jüngere Frau. Auf den Regalen hinter ihr stapeln sich in einer kleinen Küche Gläser mit Babynahrung und H-Milch-Tüten. Der Küchenbereich ist nur durch eine Durchreiche vom Gang abgetrennt. Zur Mittagszeit drängeln sich knapp 100 Menschen in dem engen Flur.

Im Zimmer neben dem Ehepaar E. ist eine kosovo-albanische Familie mit zwei Kleinkindern auf 24 Quadratmetern untergebracht. "Meine Kinder vertragen das Essen einfach nicht. Der Sohn hat seit drei Tagen Durchfall und fragt mich immer, wann ich ihm denn ein Kebab mache", sagt Sabrina K.*. Lieber heute als morgen würde sie die Koffer packen und mit den Kindern in das Kosovo zurückkehren.

Doch das geht nicht. Verwandte haben ihr Fotos vom Hof der Familie zukommen lassen. Ein Bild nach dem anderen zeigt abgebrannte Wände, zerstörtes Geschirr, ein eingefallenes Dach, nur der Herd in der Ecke des Raumes, der einmal ihre Küche war, steht noch. Und die Holzkiste, in der sie die Kinder versteckte, als serbische Paramilitärs vor der Tür standen. "Wo sollen wir jetzt leben und woher das Geld nehmen, um den Hof neu aufzubauen?" fragt sie. Mindestens bis zum Ausreisedatum am 1. Januar 2000, das die Ausländerbehörde in ihren Paß gestempelt hat, will sie in Berlin ausharren. Warum die Familienmitglieder als "Wirtschaftsflüchtlinge" eingestuft werden, versteht sie nicht. "Wir sind doch vor dem Krieg geflohen."

Mit der Verschlechterung der Situation der nach Berlin Geflüchteten gehen höhere Kosten für den Senat einher. In einer Antwort auf eine Parlamentarische Anfrage kündigte die Stadtregierung an, die Mehrausgaben hätten sich um 1,50 Mark pro Tag und Flüchtling erhöht. Demgegenüber hat Georg Classen vom Berliner Flüchtlingsrat sogar errechnet, daß die Mehrkosten zwischen drei und sechs Mark liegen. "Trotzdem wird der tatsächliche Wert der Leistungen, die die Flüchtlinge erreichen, d.h. die Ware, die auf dem Teller liegt, durch die Vollverpflegung zwangsläufig erheblich gemindert." Bei Abwesenheit zur Essenszeit, beispielsweise wegen Behörden- oder Arztbesuchen, entfalle das Essen oftmals ganz, sagt Classen.

Das DRK fühlt sich zu Unrecht kritisiert. Schließlich habe man gemeinsam mit anderen Wohlfahrtsverbänden schon im vergangenen Jahr gegen die neuen Bestimmungen des Asylbewerberleistungsgesetzes protestiert. "Die Kritik ist bei uns an der falschen Adresse. Wir sind nicht die Gesetzgeber, sondern versuchen, die Betreuung der Flüchtlinge trotz der vorgegebenen Richtlinien auf einem Mindeststandard zu gewährleisten", sagt Susanne Arabi, Pressesprecherin des DRK.

Zu der Forderung der Flüchtlinge und ihrer UnterstützerInnen, der Verband solle den Vertrag mit dem Senat kündigen und damit dessen Politik ins Leere laufen lassen, heißt es beim DRK nur: "Wenn wir es nicht machen, dann würden das andere Heimbetreiber machen - und den Flüchtlingen ginge es noch schlechter."

*Name von der Redaktion geändert