Memoiren eines deutschen Angestellten

Während alle Welt noch über die Veröffentlichung der Eichmann-Manuskripte diskutiert, hat die Welt sie schon ins Internet gestellt

Dieter Eichmann wurde via Die Welt bei der israelischen Regierung vorstellig, um die Herausgabe von etwa 1 300 handschriftlichen Manuskriptseiten zu fordern, die Adolf Eichmann, der 1962 in Israel hingerichtete SS-Obersturmbannführer und Leiter der Gestapo-Abteilung "für Judenangelegenheiten", in der Haft niedergeschrieben hatte.

"Ich habe alle Vollmachten von meinem Vater", erklärt Dieter Eichmann vollmundig, "das Material zu verlangen. Das Manuskript steht uns zu. Es ist unser Erbe." Nach dem Richterspruch gegen Eichmann verfügte der damalige israelische Ministerpräsident David Ben Gurion, das Manuskript solle 15 Jahre lang nicht herausgegeben werden. Die 15 Jahre vergingen, die Familie meldete sich nicht - nur einmal, in den Sechzigern, also noch vor Ablauf der 15-Jahres-Frist, wurde ein Anwalt der Familie in der Angelegenheit vorstellig.

Die Zurückhaltung der Familie könnte man vielleicht wohlwollend mit einem Rest von Schamgefühl für die Taten Eichmanns erklären, vielleicht stand dahinter aber auch das Kalkül, Zeiten abzuwarten, in denen die Angelegenheit unbefangen behandelt werden würde - wie sie jetzt scheinbar eingetreten sind. Eichmanns Manuskript lagert im Staatsarchiv in Jerusalem, und einige Fachhistoriker konnten es einsehen.

Die Welt begann in der vergangenen Woche mit dem Abdruck eines Teils der Eichmann-Memoiren. Diese befanden sich nämlich nicht nur in Jerusalem, sondern als Kopie frei zugänglich, aber jahrzehntelang übersehen, in der Zentralstelle zur Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Während die Debatte läuft, ob Eichmanns Memoiren publiziert werden dürfen, und die israelische Regierung ihre Absicht bekannt gab, sie zur Veröffentlichung freizugeben, wenn sie als kritische Edition in einem seriösen Verlag erscheinen, sind Teile des Werkes bereits in der Welt nachlesbar (http://www.welt.de/politik/dokumentation/eichmann//index.htx).

Die Gegner der Veröffentlichung des Manuskripts argumentieren, es reiche vollkommen aus, "wenn eine Handvoll Historiker den Text kennen, ihn im Kontext anderer Quellen analysieren und das Ergebnis für das breite Publikum veröffentlichen", so Wolfgang Benz vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung im Tagesspiegel. Yehuda Bauer aus Israel, einer der angesehensten Holocaust-Forscher, warnt in der New York Times: "Alle Sorten von Clowns werden über das Manuskript gehen und ihre Häppchen aus dem Zusammenhang reißen. Yellow-Press-Journalisten werden es benutzen, um Yellow-Press-Journalismus zu betreiben, und das hat alles mit Holocaust-Forschung nichts zu tun."

Ein weiteres Argument gegen die Veröffentlichung bringt der Anwalt Amos Hausner, dessen Vater im Eichmann-Prozess Chefankläger war, vor: "Das Urteil wird schon lange vergessen sein", sagte er der New York Times, "dann wird diese verfälschte Version alleine stehen." Die linksliberale israelische Tageszeitung Ha'aretz antwortet: "Welche Gründe auch immer bislang existierten, das Manuskript zurückzuhalten, es gibt heute keinen Grund mehr dazu. Einige befürchten, Eichmanns Manuskript werde den Holocaust-Leugnern helfen. Das könnte passieren, aber diejenigen, die Material über den Holocaust verstecken, erweisen den Revisionisten einen noch größeren Dienst."

Mit einem solch nachvollziehbaren Argument hält sich die Welt nicht auf. Bei den Kritikern, schreibt Thomas Schmid, stellvertretender Chefredakteur, im Hinblick auf Benz, komme "ein recht paternalistisches, ja autoritäres Verhältnis zum 'breiten Publikum' zum Ausdruck (...), das offensichtlich ohne Anleitung nur zum falschen Lesen fähig ist: Noch immer flackert hier der Glaube, von ungefilterten, unbearbeiteten Zeugnissen der Nazizeit gehe eine mystische Kraft des Bösen aus, vor dem man selbst die Bürger der zivilen Bundesrepublik noch schützen müsse."

Das ist perfide. Denn die Welt betreibt, während sie so etwas verkündet, wegen der "mystischen Kraft des Bösen" mit den Memoiren Eichmanns Auflagensteigerung. Der Historiker Eberhard Jäckel meint in der Stuttgarter Zeitung, es gebe keinen "Mythos Eichmann", denn: "Es gibt über Eichmann viel Literatur. Man kann den ganzen Jerusalemer Prozeß nachlesen, man kann in vielen Büchern über ihn Informationen erhalten. Diejenigen, die einen Mythos haben wollen, werden Quellen nicht zur Kenntnis nehmen - und werden auch diese neue Publikation ignorieren."

Zur Literatur über Eichmann gehört nicht zuletzt Hannah Arendts berühmter Prozeßbericht "Eichmann in Jerusalem", dem sie den Untertitel "Ein Bericht von der Banalität des Bösen" gab, und der Dramatiker Heiner Kipphardt prägte die Formel "Bruder Eichmann", um herauszustellen, daß Eichmann nicht das Zeug zur mythischen Figur hat: Er ist ein deutscher Angestellter, der mit Fleiß Leiter der "Abteilung für Judenangelegenheiten" wurde. Eichmann hätte beinah jedes Deutschen Bruder sein können, er war beispielhaft dafür, mit welcher Banalität die Tragödie des Holocaust durchgeführt werden konnte: mit Telefon, Rechenschieber und Bleistiftspitzer.

Die Debatte, die gegenwärtig um die Veröffentlichung der Memoiren geführt wird, lebt von der endlosen Suche nach dem "Mythos Eichmann". Sie endet deswegen nicht, weil sich in Eichmann, dem Prototypen des Täters, nicht das Besondere, das Sadistische, das Dämonische findet, sondern eben das Banale.