No pain, no gain

Das Gerede über die genetisch bedingten Erfolge der afrikanischen "Wunderläufer" ist so alt wie die deutschen Sportkommentatoren unerträglich: Wer schlecht trainiert, verliert halt auch

Stuttgart statt Sevilla: Wenn am Samstagabend der erste Vorlauf über 10 000 Meter auf dem Programm der 7. Leichtathletik-Weltmeisterschaften steht, dürfte der ZDF-Sportchef, Wolf Dieter Poschmann, allen Grund haben, wieder einmal über die Misere im deutschen Langstreckenlauf zu lamentieren. Denn Dieter Baumann, der wohl bekannteste deutsche Läufer, steht dann nicht auf der Tartanbahn im spanischen Sevilla, sondern sitzt in seinem Häuschen auf der Schwäbischen Alb und schaut sich den Lauf im Fernsehen an.

Die WM hatte der 35jährige bereits im Frühjahr abgehakt. Eine Achillessehnenverletzung machte die Vorbereitung unmöglich. Das selbstgesteckte Ziel, bei einem großen internationalen Wettkampf noch einmal aufs Treppchen zu steigen, hätte für den Olympiasieger von 1992 wohl in einem Desaster geendet, auch wenn er die 5 000 Meter vor zwei Wochen in Zürich in 13: 11: 86 Minuten lief. Doch gegen die afrikanischen Läufer wäre er ohnehin chancenlos geblieben, wie die aktuelle Top-Ten-Liste der Weltbesten belegt: Auf den Langstrecken sind nur eine Handvoll Europäer, dafür jeweils aber mindestens fünf Kenianer zu finden.

Nach Baumanns Verzicht stehen ARD, ZDF und Eurosport vor dem Problem, das Publikum bei der 30minütigen Live-Übertragung des 10 000-Meterlaufs vom Zappen abzuhalten. Was liegt da näher, als einmal mehr die Mär von der Übermacht der schwarzen Läufer auszupacken - und so aus einer normalen sportlichen Rivalität, wie sie etwa zwischen dem Kenianer Paul Tergat und dem äthiopischen Weltrekordler Haile Gebreselassie besteht, einen kenianisch-äthiopischen "Läuferkrieg" zu konstruieren.

Poschmann und Co. dürften also genügend Gelegenheit haben, einmal mehr ihre Geschichten über die afrikanischen "Laufwunder" aus der Tasche zu ziehen. Angesichts fehlender Konkurrenten auf den Langstrecken wird jeder europäische Außenseitererfolg als Sieg gegen die schwarze Phalanx gefeiert werden. Träger des Bundesadlers auf der Brust sind sogar nur zwei am Start - lediglich über 3 000 Meter Hindernis schafften Deutsche die Qualifikation.

Vor bald zehn Jahren schon nahm der frühere Marathonläufer Michael Spöttel in der Fachzeitschrift Spiridon die weitverbreiteten rassistischen Stereotypen unter den Journalisten und innerhalb der deutschen Läuferszene aufs Korn: "Edle Naturburschen oder -maiden, die weit ab von der zersetzenden Zivilisation, von Umweltverschmutzung und vergifteten Nahrungsmitteln getreu den Traditionen ihres Volkes leben, betreten unverdorben, ungedopt und ob ihrer 'natürlichen' Gaben siegesgewiß die europäischen Tartanbahnen und zeigen ihren Gegnerinnen aus aller Welt die Hacken. Winnetou in Afrika, lebend in der sauberen Frischluft der heutigen Steppenwelt."

Spöttels Adressaten, Zehntausende Hobbyläufer, wollten den berechtigten Einwand gegen das gängige Vorurteil nicht hören und auch die Versuche Dieter Baumanns, das ganze Gen-Gequatsche mit Berichten über Alltag und Training der kenianischen Läufer ad absurdum zu führen, blieben erfolglos. Mit den immer gleichen Klischees von einem "Black-Power"-Potential unterschlagen Sportjournalisten weiterhin die eigentlichen Gründe für den Erfolg der afrikanischen Athleten: Schließlich sind es die vermeintlich deutschen Tugenden von Disziplin, Fleiß und Ehrgeiz, die die schwarzen Läufer so schnell machen und die meisten Europäer zu Statisten degradieren.

Selbstverständlich gelten für die afrikanischen Klasseläufer dieselben Grundvoraussetzungen wie für ihre europäischen Kollegen: Krank oder übergewichtig sollten sie nicht sein; was die Ernährung anbelangt, ist die mitteleuropäische Fleischküche nicht gerade leistungsfördernd - und ein asketischer Lebensstil durchaus von Vorteil.

In Vorbereitungsperioden zu großen Wettkämpfen stehen bis zu 20 Trainingseinheiten pro Woche auf dem Programm, in denen über 200 Kilometer zurückgelegt werden - in sauerstoffarmen Höhen von 2 000 Metern über dem Meeresspiegel. Wer in Kenia zur nationalen Laufelite zählt, hat keine computergestützten Talentsichtungen in Leistungszentren hinter sich, sondern gehört zu den Gewinnern eines knallharten Ausscheidungswettbewerbs: Von Tausenden Jugendlichen schafft es höchstens ein Dutzend bis zur Weltklasse - Saisoneinkommen von mehreren Hunderttausend Mark inklusive.

Hunderte Läufer aus der zweiten Reihe jedoch müssen sich mit den mehr oder weniger lukrativen Startgeldern auf den Straßenläufen in den USA und Europa begnügen. Und der ganz große Rest wird von den Verbandstrainern bereits nach dem Probetraining wieder nach Hause geschickt.

Die Sieger der Ausscheidungswettbewerbe aber treten bei Verhandlungen mit Sponsoren, Ausstattern und Veranstaltern immer öfter kollektiv auf. Kenianische Läufergruppen bieten sich als Gruppe den Sportartikelausrüstern und Veranstaltern an. In der Hauptsaison leben sie in europäischen Camps, wie z.B. die Gruppe von kenianischen Läuferinnen und Läufern um die New-York-Marathon-Siegerin Tegla Loroupe, die mit einem Dutzend Kolleginnen in einem Detmolder Ferienpark beheimatet ist und am Rande des Teutoburger Waldes trainiert. Gemeinsam organisieren sie den Alltag, besprechen ihre Wettkampfstrategien und teilen die Prämien nach einem selbstgestalteten Leistungssystem.

Doch den Veranstaltern der internationalen Meetings paßt das nicht. So sind bei einigen Sportfesten bereits Limits eingeführt - ein Kontingent von fünf kenianischen Startern pro Disziplin muß genügen. Schließlich wolle das Publikum nicht afrikanische Kontinentalmeisterschaften auf europäischem Boden sehen. Auch die Ausstatter haben sich den Bedürfnissen der Medien und Meeting-Sponsoren angeschlossen. Seit dieser Saison tragen z.B. alle bei Puma unter Vertrag stehenden KenianerInnen ihren Namenszug auf dem Trikot. Nike, Adidas und Fila ziehen nach: "Eine gute Idee", kommentierte diese Praxis ein Eurosport-Reporter, "kann der Zuschauer die Läufer doch jetzt unterscheiden."

Was für die Fernsehübertragungen gilt, gilt auch für die rund hundert Preisgeldläufe auf Deutschlands Straßen. Grölende Provinzmoderatoren fordern das Publikum mit dumpfen Sprüchen zum Kampf Schwarz gegen Weiß auf - und verbreiten die Legende, daß der Sieger sich von den 1 000 Mark Prämie eine weitere Ziege anschaffen könne. Tags darauf berichtet dann die Lokalzeitung vom großartigen Laufstil der "schwarzen Gazellen" und davon, daß die deutschen Läufer erst gar nicht angetreten seien, weil ihnen die Prämien ohnehin weggeschnappt worden wären.

Die kenianischen LäuferInnen dürfte das nicht weiter interessieren. Daß Autohäuser und Brauereien sie zu Clowns eines Spektakels macht, gehört für sie zum Job. Unabhängig davon, ob sie nun Olympiasieger, Weltmeister oder nur Gewinner eines deutsches Straßenlaufs sind, Laufen bedeutet für die meisten erst einmal Existenzsicherung.

Kein Wunder, daß in der kenianischen Hochlandregion Eldoret, aus der rund 90 Prozent der afrikanischen LäuferInnen kommen, die Erlöse aus den Läufen inzwischen zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor geworden sind.