Stern und Morgnshtern

Es gab zwei Versuche, jüdischen Sport in Polen zu institutionalisieren. Beide scheiterten

Nach Ende des Ersten Weltkriegs war es soweit: Jüdische Sportler in Polen drängten darauf, sich in eigenen Vereinen und Verbänden zu organisieren. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung - rund drei Millionen Menschen - waren damals Juden. Mit 30 000 Sportlern in 250 Vereinen stellte Polen den größten Anteil im jüdischen Weltsportverband Makkabi.

Große sportliche Erfolge erreichten die jüdischen Clubs aber nicht. Der zu Makkabi gehörende Fußballverein Hasmonea Lwow spielte 1927/28 in der ersten Liga, Makkabi Krakow wurde 1935 Dritter bei den polnischen Meisterschaften im Frauenbasketball. Etwas erfolgreicher waren die Tischtennisspieler, die phasenweise die Mehrheit der polnischen Nationalmannschaft stellten. Nur: Tischtennis war auch in Polen eine Randsportart.

Die jüdischen Vereine, die am Sportbetrieb Polens teilnahmen, waren allesamt Mitglied bei Makkabi, dem 1921 gegründeten Weltverband des bürgerlichen jüdischen Sports. Der jüdische Beitrag zum internationalen Arbeitersport war der Weltverband Hapoel, gegründet 1926. Der Arbeitersport verweigerte sich dem, wie es hieß, "bürgerlichen Rekordsport" und versuchte, nicht auf Konkurrenzstreben basierende Werte in den Sport einzubringen.

Anders als etwa in Deutschland, wo es keine eigenständige jüdische Arbeitersportkultur gab - hier gab es nur zehn Makkabi-Vereine, die auch Mitglied im Arbeiter-Turn- und Sportbund waren -, bestanden in Polen gleich zwei eigenständige jüdische Arbeitersportverbände. Der eine hieß Morgnshtern (jiddisch) bzw. Jutrzenka (polnisch). 1926 gegründet, wurde Morgnshtern schnell Mitglied der jüdischen Arbeiterbewegung Bund (Algemejner Jidyszer Arbeter Bund), die 1897 als marxistische jüdische Untergrundbewegung in Litauen, Polen und Rußland gegründet worden war.

Die zweite Organisation, Gwiazda-Stern, war eng mit der Jüdischen Sozialistischen Arbeiterpartei Poalej Syjon-Lewica (Poale Zion-Linke) verbunden, konnte jedoch keine große Bedeutung erlangen. Der New Yorker Historiker Roni Gechtman charakterisiert Morgnshtern als Verband, der "nicht bloß Sport organisierte, sondern dies vor allem unter den sozialistischen Prinzipien des Bundes tat". Morgnshtern hatte in Polen 5 000 Mitglieder in 170 Vereinen.

Morgnshtern war als jüdische Sektion Mitglied in der Sozialistischen Arbeitersportinternationale (SASI). Die SASI konkurrierte mit der 1921 gegründeten Roten Sportinternationale (RSI), die von den kommunistischen Parteien und vor allem von der Sowjetunion gestützt wurde. Eine nichtjüdische Arbeitersportbewegung, die, ähnlich wie in Deutschland, von zerstrittenen Sozialdemokraten und Kommunisten geprägt war, gab es in Polen auch. Schon ab 1908 entstanden die ersten polnischen Arbeitersportvereine.

Vor allem auf junge jüdische Arbeiter übte Morgenshtern große Anziehungskraft aus, viele wurden aus den Werkvereinen des Bundes rekrutiert. In einigen Industriebezirken Polens, etwa Warschau und Lodz, konnte der Bund bei Kommunalwahlen auch die Mehrheit der jüdischen Stimmen auf sich vereinigen.

"Morgnshtern", so erklärt es der Historiker Roni Gechtman, "reflektierte und praktizierte die Schlüsselprinzipien des Bundes in der besonderen Umgebung des Sports: Sozialismus, Arbeiterklassenbewußtsein, Internationalismus, jiddische Kultur und die Zurückweisung von Militarismus und Nationalismus / Chauvinismus, sowohl des polnischen als auch des jüdischen." Anders als Makkabi verstand sich Morgnshtern nicht als zionistische Organisation, sondern fühlte sich dem proletarischen Internationalismus verpflichtet. Morgnshtern, so sieht es Gechtman, war nicht aus einem originären Bedürfnis nach jüdischer Arbeitersportkultur entstanden, sondern seine Gründung war dem strategischen Beschluß der Bund-Führung zu verdanken, die ihren Einfluß vergrößern wollte.

"Um seine politischen Ziele weiter verfolgen zu können, war der Bund mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich von einer kleinen, revolutionären und konspirativ arbeitenden Partei zu einer Massenorganisation zu verändern", heißt es bei Gechtman. "Diese neue Strategie der 'Massenpolitik' beinhaltete den Aufbau einer ganzen Reihe von Einrichtungen, Publikationen und Veranstaltungen, die darauf ausgerichtet waren, sowohl junge Kader zu ziehen und zu organisieren, als auch durch die Gewinnung einfacher Mitglieder den Organisationsgrad zu erhöhen." Trotz dieser Kritik erkennt auch Gechtman die großen Leistungen der Morgnshtern-Sportler und des Bundes an, "für die gesamte sozialistische jiddische Subkultur einen organisatorischen Kern geschaffen zu haben. Nur der Bund war in der Lage, Tausende von neuen Mitgliedern, vor allem junge Leute, in ein Netzwerk von Arbeitervereinen und anderen Organisationen zu integrieren."

Den Nazi-Überfall auf Polen überstanden weder die Makkabi- noch die Morgnsthern-Sportbewegung. Jüdischer Sport in Polen fand in den vierziger Jahren fast nur in den Konzentrationslagern der Deutschen statt - organisiert von den Deutschen. Der französische Holocaust-Überlebende Marc Klein schreibt in einem Bericht über den Alltag in Auschwitz, daß Sonntag nachmittags oft "unter lautstarkem Beifall der Zuschauer Fußball-, Basketball- und Wasserpoloturniere" stattfanden. Dies ging auf einen Befehl des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, zurück, der, so zitieren Gerhard Fischer und Ulrich Lindner in ihrem Buch "Stürmer für Hitler" einen Häftling, dies "zur Steigerung der Arbeitsleistung" erlassen hatte.

Der Sportplatz des Lagers Auschwitz-Birkenau lag in unmittelbarer Nähe der Vernichtungsanlagen. Von Mai bis Oktober wurde hier an Sonntagen Fußball gespielt. Auch Wettkämpfe im Boxen, Ringen und der Leichtathletik gab es zu sehen. Von den Fußballigen anderer KZ, etwa desjenigen in Theresienstadt, ist überliefert, daß dort auch jüdische Mannschaften antraten, etwa Hagibor Prag und Hagibor Theresienstadt. Sie spielten in einer Liga mit beispielsweise der Ghettowache, den Köchen oder der Kleiderkammer.

Aus Auschwitz ist bekannt, daß auch Wachmannschaften der SS zum Fußball gegen Häftlinge antraten. Der frühere österreichische Profifußballer und Trainer Igor Fischer, ein Holocaust-Überlebender, wird in einem Aufsatz von Dietrich Schulze-Marmeling und Michael John mit einer Erinnerung an seine Zeit in Auschwitz zitiert: "Es waren auch ganz gefährliche SSler dabei. Naja, und Fußball ist ein emotionelles Spiel, so ein Profi, der ergreift dann schon die Chance, daß er seinen Peiniger und Bewacher ausspielt, naja auch, daß er ihn geschickt foult, daß er ihn abklopft - aber, da muß man eben unbedingt ruhigen Kopf bewahren. Denn der Gegner da am Fußballfeld war ein spezieller: der konnte dich auch umbringen. Nicht gleich am Fußballplatz, aber später!" Mordaktionen nach dem Gewinn eines Fußballspiels durch Häftlinge sind nachgewiesen.

Nach 1945 hatten sich in etlichen polnischen Städten jüdische Überlebende des Holocaust zusammengeschlossen, um neue und eigene Sportvereine zu gründen. 1947 gab es in Polen schon wieder 20 Vereine. Sogar Auslandskontakte wurden geknüpft, soviel Optimismus für eine jüdische Sportbewegung war vorhanden. Doch die meisten überlebenden Juden wanderten nach Israel oder in die USA aus, und ihre Sportvereine verschwanden wieder. Auch der älteste jüdische Verein Polens, Makkabi Krakow, wurde 1949 endgültig aufgelöst. Dies war der bislang letzte Versuch, jüdischen Sport in Polen zu institutionalisieren.