»UZ« übers Gesicht

Wie Helena Aschenbruck sich einmal an eine aufregende Nacht erinnerte und damit fast auf einem Pressefest der Deutschen Kommunistischen Partei gelandet wäre

Was für eine Giga-Scheiße! Die Frau zerfetzte das rote Programmheft, in dem sie noch Minuten vorher gelesen hatte, während sie sich gleichzeitig verzweifelt im Abteil umsah. Sie mußte hier raus, soviel war klar. Und das verdammt schnell.

Dabei hatte alles so schön angefangen, in dieser Samstagnacht vor zwei Wochen. Der Typ war ihr gleich aufgefallen, und gerade, als sie schon aufgeben wollte, war er auf sie zugekommen. Und dann war alles sehr schnell gegangen. Als die Bar schloß, hatte sie ihn mit zu sich nach Hause genommen. So guten Sex hatte sie schon lange nicht mehr gehabt. Deswegen hatte sie ihn am nächsten Morgen auch gefragt, ob man sich nicht mal wieder treffen könne, ganz gegen ihre Gewohnheit.

"Klar, komm doch am 27. nach Dortmund, kannst bei mir übernachten", hatte er vorgeschlagen und ihr erklärt, daß dort ein mehrtägiger Mega-Event stattfinden würde. So ganz genau hatte sie ihm damals nicht zugehört, denn sie mußte immer wieder an die vergangene Nacht denken, aber worum es da gehen würde, hatte sie schon mitbekommen.

Weltfrieden und Liebe und so halt, ein Rave, allerdings nur für Eingeweihte. Rave - von wegen! So blöd konnte auch nur sie sein. Jetzt wurde ihr auch klar, warum die Frau am Fahrkartenschalter gegrinst hatte, als sie nach dem Sonderzug für die Dortmunder Love-Parade gefragt hatte. Aber verschlafen, wie sie war - der ICE soundso dorthin fuhr um 7.25 Uhr morgens aus Berlin ab -, hatte sie darauf nicht weiter geachtet.

Und nun saß sie hier fest. Zum Glück hatte ihr vorhin ein älterer Mann dieses Heft gegeben. "Na, auch nach Dortmund unterwegs?" hatte er sie gefragt und ihr die geballte Faust entgegengereckt. Zuerst hatte sie ihm irgendwas Gemeines antworten wollen, denn alte Säcke auf der Suche nach jungen Frauen hatte sie schon bei der Berliner Parade zur Genüge erlebt, aber der Mann war eigentlich ganz sympathisch gewesen. Und hatte ihr schließlich die Augen geöffnet. Dieser Rave war das Pressefest der DKP-Zeitung Unsere Zeit, und wie sowas aussehen würde, konnte sie sich absolut vorstellen, schließlich waren damals in der Oberstufe die größten Schnarcher Sympathisanten der Deutschen Kommunisten gewesen.

Zuerst hatte sie jedoch noch gezweifelt, ob es wirklich so schlimm werden würde, schließlich war der Typ wirklich ganz knuffig gewesen. Und womöglich hatte die Partei sich ja auch verändert. Als sie das Heft aufschlug und zu lesen begann, war sie jedoch nicht mehr ganz so sicher. Schon das Vorwort von Parteichef Heinz Stehr, der schrieb, die "Blockadepolitik der Medien überwinden" zu wollen, und verkündete: "Wir sind trotzdem davon überzeugt: Unsere kommunistische Weltanschauung ist 2000fähig. Sie ist entwicklungsfähig", ließ nichts Gutes ahnen.

Schrieben entwicklungsfähige Menschen wirklich so etwas: "Kurzum, wir laden Dich und Sie ein, mit uns beim 11. Pressefest der UZ - Volksfest der DKP - dem letzten dieses bewegten Jahrhunderts, vor allem zu feiern, aber auch Gedanken auszutauschen, zu diskutieren"?

Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, daß sie, Sex hin, Sex her, vielleicht doch nicht nach Dortmund reisen sollte. "Was macht eigentlich das UZ-Pressefest - Volksfest der DKP - so attraktiv?" fragte wenige Seiten später ein anderer UZi.

Keine Ahnung, nichts?, dachte die Frau müde, aber der Autor ersparte ihr eine Antwort: "Nein, die Frage steht nicht ernsthaft. Die zahlreichen Besucherinnen und Besucher der Pressefeste" - und Volksfeste der DKP, ergänzte die Frau in Gedanken - "in den vergangenen 25 Jahren wissen es genau: Den Kommunistinnen und Kommunisten gelingt es, scheinbar Gegensätzliches unter einen Hut - oder besser auf einen Festplatz zu bringen. Liedermacher und -macherinnen treten neben Rock- und Punkbands auf."

Das kam ihr verdammt bekannt vor - wenn sie sich nur genau erinnern könnte, woher. "Kurdische Folklore und kubanischer Salsa lassen sich nicht durch die Hip-Hop-Combo im Nachbarzelt stören und auch nicht davon, daß plötzlich vor dem Zelt Schalmeien erklingen." Na klar! Nach diesem System waren früher von allen bundesdeutschen Stadtsparkassen, die auch nur ein wenig auf sich hielten, Nachwuchsband-Wettbewerbe abgehalten worden, die Sieger landeten auf Samplern, die an den Schaltern dann für 19 Mark 90 angeboten, aber niemals wirklich gekauft wurden.

Von wem auch? Die Bands hatten jeweils ungefähr 1500 Frei-Exemplare erhalten und an wirklich jeden verschenkt. Mit der Abschaffung der Sparkassensampler blieb für die musikalisch Minderbegabten wohl nur noch die traditionell kulturell unerschrockene DKP. "Che lebt! In Dresden!" las sie beispielsweise über den Singeclub Ernesto Che Guevara-Dresden, dessen "satirisch-politisches Repertoire, seine Universalität und Flexibilität" ihn bis heute auszeichneten.

Aber es sollte noch schlimmer kommen: "Der Spaß am Singen, die Liebe zur Musik und nicht zuletzt der Wille, sich heute zu Problemen im Land und in der Welt zu äußern, verbindet in dieser Gruppe ständig neue und gestandene Mitglieder." Also Musik war das nicht, was die da machen würden, soviel war ihr klar, und soviele E's würde sie gar nicht auf einmal schlucken können, um den sächsischen Guevaras und ihrer Betreuerin Dr. Martha Luise Itzel, einer Art fleischgewordenen kommunistischen Plattform, auch nur irgend etwas abgewinnen zu können.

Und wirklich: "Viele Wessis können zehn Jahre nach deren Ende immer noch nicht nachvollziehen, wieviel Persönlichkeit, Kampfgeist und Kraft DDR-Menschen auch brauchen, um gute Traditionen fortzusetzen." Genau deswegen hatten die Ossis zwar ihren eigenen Brauchtumspflegeverein, aber die DKP schien es wirklich ernst zu meinen und wirklich jeden haben zu wollen.

Auf Seite 63 war sie z.B. auf eine Notiz zum Kinderfest gestoßen. "Das 'K' in unserem Namen steht auch für Kinder", hieß es da präventiv - sonst wäre einem wahrscheinlich nur Kuba und Küche eingefallen, dachte die Frau und überflog die wenigen Zeilen, in denen man sich an den Nachwuchs ranschmiß. War beinahe noch schlimmer als die Ankündigung zum Frauenzelt. Dort wurden "Kaffee und Kuchen, ein Frauen-Büchertisch, ein Schmuckstand mit Sonja Gottlieb (Hexlein für Hexlein)" angeboten und "eine Gesprächsrunde über das Frau-Sein heute, bei der unterschiedliche Erfahrungen mit verschiedenen Lebenswelten erörtert werden sollen" - sonst gibt es nämlich keinen Kuchen.

Und da kamen tatsächlich Leute hin? Zu einer Veranstaltung, auf der ein Schauspieler "ein politisch-literarisch-musikalisches Programm" - drunter tut man's dort nicht - präsentierte, "das in halbjähriger Arbeit in Zusammenarbeit mit Menschen entstanden ist, die nicht mehr vermarktet werden: mit erwerbslosen Goethe-Lesern und -Leserinnen"? Wahrscheinlich nicht.

Nachdem sie das Heft fast vollständig durchgeblättert hatte, hatte sie das Gefühl, etwas Wichtiges übersehen zu haben. Den Krieg gegen Jugoslawien, genau. Sollten die Veranstalter sich diese einmalige Gelegenheit entgehen haben lassen und keine Solidaritätsadressen mit den jugoslawischen Werktätigen veröffentlicht haben? Anscheinend ja, es gab nur ein paar lahme Aktionen wie "Helmut Martin-Myren und Birgitt Happ aus Meerbusch stellen aus und gestalten eine Performance gegen den Krieg" und eine Gesprächsrunde zum Thema.

"Wie verhindert man Kriege, wie macht man Frieden?" lautete der Titel eines der "Linken Foren", auf dem die deutsche Beteiligung am Jugoslawien-Krieg diskutiert werden sollte. "Von deutschem Boden ging zum wiederholten Mal Krieg aus. Deutsche Soldaten waren beteiligt am Angriffskrieg gegen Jugoslawien" stand dazu im Programm. Das klang fast wie eine Pflichtübung, dabei hätte es gerade dazu doch allerhand zu sagen gegeben, dachte die Frau. Vielleicht hielt man sich zurück, damit sich niemand an 1968 erinnerte.

Nein, das war nicht ihre Zeit. Weder wollte sie den Typen wiedertreffen noch beim Presse- und Volksfest dieser Partei gesehen werden. Er hatte zwar richtig knuffig ausgesehen, aber spielte das wirklich eine Rolle? UZ aufs Gesicht, Schwanz ist Schwanz, reicht vielleicht doch nicht, dachte sie und las ein letztes Mal die Strafandrohung neben dem Notbremsen-Hebel. Dann brachte sie mit einem entschlossenen Griff den ICE soundso zum Stehen.