Jerzy Urban

"Viele saßen rittlings auf der Barrikade"

Der Journalist Jerzy Urban war von 1984 bis 1989 Regierungssprecher der polnischen Regierung. Von seinen Gegnern als "Jaruzelskis Hupe" beschimpft, gehörte der sarkastische Mann im Ministerrang zu den meistgehaßten Männern Polens, obwohl oder gerade weil er seine intellektuelle Unabhängigkeit auch gegen die kommunistische Partei PVAP und die Regierung behauptete. So z. B. 1989, als er das sozialistische Bruderland im Osten düpierte und, entgegen der offiziellen Geschichtsschreibung, den sowjetischen NKWD für die bis dahin den Nazis zugeschriebenen Massaker von Katy«n verantwortlich machte. Mit der 1990 gegründeten politisch-satirischen Wochenzeitung Nie ("Nein"), die keinem Streit, vor allem mit der katholischen Kirche und Solidarnos«c«, aus dem Wege geht, gelang es ihm, seinen schlechten Ruf wiederherzustellen und sich - wie die Berliner Zeitung recherchierte - einen Porsche zuzulegen.

Wie schätzen Sie die Überlebenschancen der Regierung von Jerzy Buzek ein?

Zur Zeit berät ein Konsilium der Chirurgen - die Führungsgruppe des Wahlbündnisses Solidarnosc, der stärkeren der beiden Fraktionen, die die polnische Regierung bilden - über eine geeignete Therapie. Einige der Mediziner fordern die Amputation bestimmter Glieder der Buzek-Regierung, andere verlangen sogar, daß der Kopf entfernt werden müsse, damit eine neue Regierung gebildet werden könne. Wer sich mit seiner Therapie durchsetzen wird, wissen wir in einigen Tagen.

Ich glaube jedoch, daß man nur einige Minister austauschen wird, weil Solidarnosc-Führer Marius Krzaklewski bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 kandidieren will und kurz vor den Wahlen den Wechsel auf den Posten des Ministerpräsidenten vollziehen möchte. Er will eine neue Regierung ins Amt bringen, der es zeitlich nicht mehr möglich ist, unpopulär zu werden. Während das Auswechseln eines Ministerpräsidenten die Zustimmung des Parlaments erfordert, ist das bei Ministern nicht der Fall. Die Möglichkeit, daß ein Teil der Abgeordneten der Regierungsmehrheit, unter ihnen die Anhänger des verhaßten Vizepremiers und Innenministers Janusz Tomaszewski, gegen einen neuen Ministerpräsidenten stimmt, macht den Mitgliedern des Wahlbündnisses Solidarnosc Sorgen. Denn dies würde zu einer politischen Krise führen, der vorgezogene Wahlen folgen müßten, aus denen die Sozialdemokraten als Sieger hervorgingen.

Zwei Minister haben in den letzten Wochen die Regierung verlassen, zuerst der Verteidigungsminister, jetzt Innenminister Tomaszewski - Sie waren daran nicht ganz unbeteiligt.

Tomaszewski hat die obligatorische Erklärung, kein Spitzel des ehemaligen kommunistischen Sicherheitsdienstes gewesen zu sein, unterschrieben. Die Zeitung Nie hat ein Dokument veröffentlicht, das ihn belastet, Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes gewesen zu sein. In dem Dokument wurden Zeugen benannt, die sich bereit erklärten auszusagen. Daraufhin wurde der Fall an das Lustrationsgericht, das solche Überprüfungen vornimmt, weitergeleitet.

In der Partei Tomaszewskis, dem Wahlbündnis Solidarnosc, gibt es einen Beschluß, nach dem Minister, deren Fälle an das Lustrationsgericht gehen, automatisch abgesetzt werden müssen. Der Koalitionspartner der Solidarnosc, Unia Wolnosci, hat Tomaszewski zudem vorgeworfen, er habe als Minister unter dem Vorwand der politischen Überprüfung ehemaliger Spitzel Informationen über sexuelle Interessen von Politikern und mögliche Zuwiderhandlungen gegen die Sittlichkeit gesammelt. All das ist schon sehr absurd.

Der Vorwurf, vor 1989 mit dem Sicherheitsdienst zusammengearbeitet zu haben, ist ja nun nicht nur gegen Tomaszewski erhoben worden ...

Es ist unbekannt, wieviele Politiker in der Zeit des real existierenden Sozialismus Agenten der Sicherheitspolizei waren, obwohl sie bei der Überprüfung das Gegenteil angegeben hatten. Naturgemäß hatte die Sicherheitspolizei ein großes Interesse, viele Spitzel in die Opposition einzuschleusen.

Sie haben durch Ihre Enthüllungen zum Sturz von Tomaszewski beigetragen - halten die Überprüfung aber gleichzeitig für unsinnig?

Meiner Ansicht nach ist die Überprüfung reiner Blödsinn, da sie als ein Instrument für persönliche Intrigen verwendet wird. Es ist auch heute nicht mehr möglich, die tatsächlichen Agenten und Mitarbeiter des ehemaligen Sicherheitsdienstes zu dechiffrieren. Zahlreiche Beamte haben damals Leute abgeschöpft, die gar keine Ahnung hatten, mit wem sie sprachen. Später bekamen diese Personen in den Berichten über diese Gespräche ohne ihr Wissen Decknamen und erscheinen heute als Agenten.

Zudem wurde eine enorme Menge an Unterlagen gefälscht und vernichtet. Archive, die die unter den Priestern sehr verbreitete Zuträgerei nachwiesen, wurden höchstwahrscheinlich den Oberhäuptern der polnischen katholischen Kirche als Geschenk übergeben. Von der Überprüfung sind im gleichen Maße wie die Spitzel auch jene Journalisten betroffen, die bei ihren Auslandsreisen von Nachrichtendiensten um das Verfassen einer Analyse der politischen Lage des Landes gebeten wurden, das ihr Reiseziel war, damit die polnischen Botschaften kein Monopol auf solche Beurteilungen hatten. Ingenieure, die über technische Neuheiten in der Welt berichteten, werden nun genauso behandelt, wie die bezahlten Provokateure, die z.B. in der Solidarnosc tätig waren. Die Überprüfungen werden mit einer Blamage enden.

Nun hat es ähnliche Beschuldigungen ja auch gegen Präsident Aleksander Kwasniewski gegeben ...

Kwasniewski wurde in der Tat durch eine rechte Zeitung bezichtigt, er habe, als er noch Sejm-Abgeordneter und Führer der Sozialdemokratie war, zur selben Zeit in einem Hotel an der Ostsee gewohnt wie ein ehemaliger sowjetischer Diplomat, der sich später als KGB-Mann entpuppte. Eine zufällige Koinzidenz, denn mehr war da nicht. Wäre ich älter, als ich bin, und wäre ich vor dem Krieg nach Deutschland gekommen und in demselben Hotel wie Himmler eingekehrt und hätte im selben Restaurant wie er gespeist, so glaube ich nicht, daß ich mich in Nürnberg als Mittäter für Verbrechen gegen die Menschheit hätte verantworten müssen.

Ihre Recherchen sollen aber nicht nur die Überprüfungspraxis ad absurdum führen, sondern Sie wollen doch auch bestimmte Politiker treffen, die sich der Zeit angepaßt haben - vor allem solche der Solidarnos«c«?

Rücktritte von bereits drei und nicht zwei Ministern im Zusammenhang mit der Überprüfung - von denen zwei durch Nie bloßgestellt wurden - sind lediglich ein Ausdruck jener einfachen Tatsache, daß die feurigen Antikommunisten von heute eben zur Zeit des Kommunismus geboren wurden und lebten. Einige von ihnen waren schon immer unbeugsame Antikommunisten gewesen, andere dagegen übereifrige Kommunisten, bevor sie zu übereifrigen Feinden dieses Systems wurden, andere wiederum saßen rittlings auf der Barrikade. Ein radikaler Bruch des Wahlbündnises Solidarnosc mit dem Kommunismus ist aber aus ganz anderen Gründen mißlungen.

Diese Bewegung hat eine schlechte kommunistische Mentalität und veraltete Regierungstechniken geerbt. Vertreter dieser Bewegung glauben beispielsweise, Polen von heute sei ihr Werk und ihr Eigentum, so daß allein sie berufen seien, dieses Land zu regieren. Konkurrenten sehen sie als Diebe ihres Eigentums. Mehrere Zehntausend staatlicher Posten wurden genau nach den zu Zeiten des real existierenden Sozialismus geltenden Regeln der politischen Nomenklatura besetzt. Geerbt wurde auch die Arroganz gegenüber den Regierten.

Geerbt aber haben doch alle, oder glauben Sie, daß es gerade in den Transformationsprozessen in den ehemaligen Ostblockstaaten irgend jemanden gibt, der nicht in irgendeiner Weise durch die untergegangene Gesellschaft geprägt sein könnte?

Für Rußland trifft zu, daß alle heutigen Eliten ihre Wurzeln in der früheren Regierungselite haben. In Polen ist das nicht der Fall. Unter den Bedingungen des kommunistischen Systems gab es nach 1956 in Polen relativ autonome Eliten, wie z. B. an den Universitäten, in Künstlerkreisen, in der Ökonomie, in Kirchenorganisationen und in privaten Unternehmen. Zahlreiche polnische Bürger reisten frei in den Westen, arbeiteten und erlangten dort berufliche Qualifikationen und politische Prägung.

Das Problem ist eher das, daß das kapitalistisch-demokratische Polen in beachtlichem Maß ein Werk eines Teiles jener Elite ist, die in der kommunistischen PVAP oder in ihrem Einflußbereich wirkte. Die Abmachungen des Runden Tisches 1989 wurden auf der Basis einer weitgehenden Annäherung der Vorstellungen beider Vertragsparteien getroffen. 1981 gehörten ein Drittel der Mitglieder der PVAP gleichzeitig der Solidarnosc an. Nach der Verhängung des Kriegszustandes trat nur ein kleiner Teil dieser Leute aus der Partei aus. Soviel ich weiß, wurde damals niemand wegen seiner Solidarnosc-Mitgliedschaft aus der Partei geworfen.

Die oppositionelle Bewegung, die 1981 zehn Millionen Menschen umfaßte, wurde nicht nur durch kleine Gruppen der früheren Opposition gebildet, sondern auch durch die legale, kritisch eingestellte Presse, durch Literatur, katholische Verbände, Kabaretts, Hochschulen. In der Partei, die heute als kommunistisch bezeichnet wird, gab es nach 1956 immer sozialdemokratische, pragmatische und liberale Strömungen (aber auch eine nationalistisch-faschistoide).

Im kommunistischen Polen gab es somit verschiedene Brutstätten für die Eliten des demokratischen Polen. Polen, die keine Kontakte zu dem kommunistischen System hatten und mit diesem keinen Deal machten, das waren nur jene, die in der politischen Emigration lebten. Ich kenne nur einen solchen Emigranten, der nach 1989 nach Polen zurückkehrte und sich hier eine Zeit lang politisch engagierte. Dies hatte so lange gedauert, bis Nie Unterlagen veröffentlichte, aus denen hervorging, daß er sich zur Zusammenarbeit mit dem kommunistischen Sicherheitsdienst schriftlich verpflichtet und dafür Geld einkassiert hatte, bevor er anschließend zum Direktor des antikommunistischen Senders Radio Free Europe in München wurde.