Fast alles ist sinnlos

Frisch aus den Fünfzigern: "Irrlichterloh" von Arno Geiger ist Existenzialismus für Gymnasiasten.

Es gibt sie also doch noch, die Gymnasiasten, die Camus und Sartre lesen, schwarze Klamotten anziehen und genauso schwarzen Kaffee trinken, am liebsten auch solchen Tabak rauchen, die Haare lang tragen und das Leben für sinnlos halten. Etwa wenn sie morgens aus dem Fenster gucken, auf dem Bürgersteig einen Postangestellten sehen, der einen Briefkasten leert, und sich denken, dass dieser arme Briefkasten-Entleerer bestimmt nicht weiß, dass seine Existenz vollkommen sinnlos ist, und dass der Briefkasten sowieso leer ist, weil sich nämlich niemand mehr etwas mitzuteilen hat. Diese Leute gibt es noch, denn sonst gäbe es keine Bücher wie "Irrlichterloh" von Arno Geiger.

Dessen Held Jonas ist auf jeden Fall so einer, und zwar im fortgeschrittenen Stadium. Er hat studiert, aber keinen adäquaten Job gefunden, weshalb er nun in einer Straßenschilderfabrik arbeitet und nebenbei Theater macht. Wo immer er kann, feiert er die Unordnung: zum Beispiel nachts. Dann zieht er um die Häuser, weil man nur einmal jung ist und so etwas dazugehört, und besprüht Straßenschilder mit neodadaistischen Einfällen. Doch als er eines Morgens nach Hause kommt, ist seine Freundin weg und nicht nur das: Sein Chef hat sie ihm ausgespannt, sie hat sich die Haare abgeschnitten, und die beiden sind zusammen über alle Berge. Außerdem haben sie sich auch noch ein Gemälde aus Jonas' Besitz unter den Nagel gerissen, das sie an eine - nicht minder geheimnisvolle - Galeristin verkaufen wollen. Dieses Gemälde zeigt ein "Rauchendes Mädchen" und ist Jonas buchstäblich vor die Füße gefallen, weil es mal jemand aus dem Fenster geworfen hat. Es soll von einem berühmten Maler gemalt worden sein, ist aber wohl doch nur eine Fälschung. All das schlägt Jonas mächtig aufs Gemüt, er kapert auf dem Marktplatz vor der Kirche ein Motorrad, das eigentlich einem Brautpaar gehört, das damit nach Paris fahren wollte, und nimmt die Verfolgung auf.

In den USA wäre Jonas wahrscheinlich ein Slacker, würde sich darüber ärgern, dass er einen unterbelichteten Job machen muß, um seinen Internet-Zugang und seine Grungerock-Platten bezahlen zu können und "Irrlichterloh" wäre ein literarisches Roadmovie. In Deutschland ist er ein Taugenichts, der seine Kleinkriminalität romantisiert, über das Sein und den Sinn grübelt, und der Roman ist ein merkwürdiges Zwitterwesen. Rasant und doch rückwärtsgewandt, geschrieben in einer Sprache, die den Kitsch der Bilder kongenial in Metaphern übersetzt.

Schon ein Titel wie "Irrlichterloh" und Wörter wie irre, Licht, lodern, ein Irrlicht sein und lichterloh brennen, können einem eigentlich nur an einer alten Reiseschreibmaschine einfallen. Am Computer sieht so etwas komisch aus. Und wenn der Held etwa aus dem Fenster blickt sieht er nicht profan die Sonne untergehen, sondern beobachtet, "wie der Sommertag durchrostet".

Das ganze Buch wird von solchen Motiven getragen, alles ist in Brauntönen gehalten - Zeichen des Verfalls oder der Flucht, wohin man blickt. Ein Motorrad mit Beifahrersitz, eine Straße, deren Asphalt "Brandblasen" wirft, ein ausgebranntes Auto am Straßenrand, heruntergekommene Tankstellen, das Meer, die reiche Frau auf der Suche nach dem Kick, der sie aus der Langeweile reißt. Irgendwann gabelt Jonas ein Mädchen als Anhalterin auf und am Schluss - wie könnte es anders sein -, nachdem das gestohlene Bild ein halbes Dutzend Mal den Besitzer gewechselt hat und sich alle Handlungsfäden aufgelöst haben, starten die beiden ein neues Leben. Am Busbahnhof, mit nichts weiter in ihren Händen als zwei Koffer.

Auch das Bild der Stadt, das Geiger entwirft, kommt direkt aus den Fünfzigern. Die ÖTV heißt Transportarbeitergewerkschaft und hat Sammlungen von Pin-Up-Kalendern in ihrem Keller. Es gibt Gegenden, wo Hydranten aufgedreht werden, in deren Wasserstrahl dann mit Lumpen bekleidete Kinder spielen. Niemand in dieser Gegend will irgendetwas mit der Polizei zu tun haben, denn dieser Kiez wird von der Mafia regiert. Und die tritt ausgerechnet in Form von Bösewichtern auf, die Sätze sagen wie: "Picone schickt mich." Deshalb ruft auch keiner die Feuerwehr, um das Wasser abzustellen. Solche Städte gibt es in Deutschland oder Österreich natürlich nicht. Aber für einen pubertierenden Gymnasiasten, der sich gerade in die Oberschüler-Klassiker aus Frankreich vergraben hat und auch dem sporadischen Konsum von Gangsterfilmen nicht abgeneigt ist, mag es ab und zu so aussehen.

Im Unterschied etwa zu Benjamin von Stuckrad-Barre, dessen Bücher von einer Alle-anderen-sind-blöd-Haltung getragen werden, geht es bei Geiger eher um ein Sie-wissen-nicht-was-sie-tun-und-wollen-es-auch-gar-nicht-wissen. Beides ist pubertär, und trotzdem vollkommen verschieden. Geiger psychologisiert nie, und sein Held erinnert sich auch selten an die Vergangenheit. Wenn Stuckrad-Barres Protagonist von seiner Freundin sitzengelassen wird, denkt er sich, So-war-das-als-wir-gemeinsam-Eis-gegessen-haben-und-jetzt-schleckt-sie-einen-anderen, Geigers Held übersetzt seinen Liebeskummer sofort in großangelegten Weltschmerz und Sinnverlust. Das ist 19jährigen-Neo-Existenzialismus, wie er Fünfziger-Jahre-mäßiger kaum denkbar ist.

Arno Geiger: Irrlichterloh. Hanser Verlag, München/ Wien 1999, 200 Seiten, DM 29,80