Die EU nähert sich der Türkei

Strategische Bande

Erstaunlich ruhig fielen die Reaktionen auf die Gefängnisrevolten und das Massaker in der Türkei aus. Während der grüne Außenminister Joseph Fischer und seine EU-Kollegen ansonsten stets mit sorgenvoller Miene auf die Lage der Menschenrechte in der Türkei verweisen, suchte man diesmal ihre Stellungnahmen vergeblich.

Bereits zuvor äußerte sich das Auswärtige Amt in seiner Einschätzung zur innenpolitischen Situation beim Nato-Partner äußerst diplomatisch - außer den üblichen "tragischen Einzelfällen" gab es nicht viel Neues zu berichten. "Die Reform der Lageberichte ist Volmer (...) erschreckend halbherzig angegangen", kommentierte anschließend die Berliner Zeitung.

Dass nun alles halb so schlimm ist, liegt vor allem an dem radikalen Wandel, den die europäische und insbesondere die deutsche Außenpolitik gegenüber der Türkei vor kurzem vollzogen hat. Anfang September hatten die EU-Außenminister auf einem informellen Treffen erstmals erklärt, dass sie den Beitrittswunsch Ankaras unterstützen werden. Neben Deutschland sprachen sich dort Frankreich, Großbritannien, Spanien und die Niederlande für die Aufnahme aus. Und bereits auf dem EU-"Erweiterungs"-Gipfel im Dezember in Helsinki soll darüber beschlossen werden.

Wird die Türkei aufgenommen, hat das Land mit Lichtgeschwindigkeit sämtliche Hindernisse überwunden. Denn bis vor kurzem galt dieses Ansinnen als utopisch und wurde routiniert mit Verweis auf die Menschenrechtslage zurückgewiesen.

Noch auf ihrem Luxemburger Gipfel vor zwei Jahren erklärten die EU-Minister, dass die Türkei nicht einmal Aussichten auf die zweite Runde der Beitrittskandidaten habe - was nichts anderes hieß, als dass man vielleicht in 20 oder 30 Jahren nochmal über alles reden könnte.

Und nun soll alles anders sein? Plötzlich steht die Türkei auf derselben Stufe wie andere osteuropäische Kandidaten, wie Polen oder Tschechien, die Musterschüler der EU.

Rasante Fortschritte hat die Türkei wohl kaum gemacht. Zwischen Luxemburg und heute liegen die Regierungsbeteiligung der faschistischen MHP und die Entführung Öcalans. An dem gnadenlosen Krieg gegen die Kurden hat sich nichts geändert, ebenso werden weiterhin Häftlinge massakriert und Oppositionelle gefoltert und ermordet.

Und warum sollte sich die Türkei durch den EU-Beitritt plötzlich in eine Zivilgesellschaft verwandeln, die ohne prosperierenden Kapitalismus nicht zu haben ist? Dafür ist die Entwicklung des Landes und der Region in eine abgekoppelte Elendsregion des Weltmarktes zu weit vorgeschritten. Statt Demokratie und Marktwirtschaft liegt die Zukunft dort in einer autoritären Gesellschaft rivalisierender Cliquen.

Geändert hat sich hingegen vor allem die außenpolitische Situation der Türkei. Bereits nach dem Antritt der ultranationalistischen Koalition hat Ministerpräsident Bülent Ecevit klar gemacht, dass seine Regierung auf die EU keine Rücksicht nehmen wird.

Und spätestens seit dem Krieg gegen Jugoslawien ist man sich in Ankara sicher, dass es notfalls auch ohne die Europäer geht. Die USA werden die Türkei als wichtigsten Verbündeten in Südosteuropa unterstützen - egal, was in dem Land mit den Kurden oder der Opposition geschieht.

Für die EU - allen voran Deutschland und Frankreich - ist hingegen klar, dass es ohne die Türkei schwierig werden wird, den Einfluss im Nahen Osten und im europäischen Hinterhof auszubauen. Deutschland habe ein nachhaltiges "Interesse an der Europäisierung der Türkei im weitesten Sinne", erklärte dazu Außenminister Fischer. Die Vorgaben haben sich umgedreht. Den geopolitischen Interessen hat sich schließlich auch die Ideologie der Zivilgesellschaft unterzuordnen.