Die zweite Ermordung

Wieder wurden in Berlin jüdische Gräber zerstört. Und wieder fehlt von antisemitischen Tätern jede Spur.

Die Bilanz ist erdrückend: In den letzten zehn Jahren fanden mehr antisemitische Angriffe statt als in der Zeit vor 1933. Nur wenige Jahre ist es her, da provozierten Feststellungen dieser Art Debatten über neuen deutschen Faschismus. Heute sind die meisten Anschläge allenfalls noch eine Meldung wert. Sie führen eher zu Beschwörungen zivilgesellschaftlicher Normalität als zu Warnungen vor der drohenden Gefahr.

Es sei denn, sie sind spektakulär genug - wie jetzt am 3. Oktober die Verwüstungen auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee, dem größten Europas. Unbekannte zerstörten dort 103 Grabsteine. Am selben Wochenende wurden das Denkmal zur Erinnerung an die Deportation der Berliner Juden an der Putlitzbrücke und das Brecht-Denkmal vor dem Berliner Ensemble mit Hakenkreuzen besprüht. Beide Orte waren schon mehrmals Ziel solcher Schmierereien geworden.

An die Reaktion der Strafverfolger hat man sich mittlerweile bereits gewöhnt. Ein politischer Hintergrund, so Innensenator Eckart Werthebach (CDU), könne zwar nicht ausgeschlossen werden, man ermittle aber in alle Richtungen. Vielleicht ein Grund, warum die Polizei nicht einen der schweren Anschläge der letzten Jahre hat aufklären können. Regelmäßig stellen die Strafverfolger Verfahren ein, wie etwa jüngst bei den Ermittlungen wegen des Attentats auf das Grab von Heinz Galinski, dem früheren Vorsitzenden der Berliner Jüdischen Gemeinde.

Die Behörden waren vorgewarnt. Schließlich konnte dem Innensenat der Hauptstadt nicht verborgen geblieben sein, dass seit Jahren um den 3. Oktober solche Anschläge verübt worden waren. Genauer: Seit der 3. Oktober zum Einheitsfeiertag ernannt wurde. Die Verwüstung des Friedhofs verweist damit nicht nur auf gravierende Sicherheitsmängel, sondern auch auf das Bemühen, die Existenz eines militanten Antisemitismus zu leugnen.

Dabei verbergen sich die antisemitischen Propagandisten nicht: Am 2. Oktober demonstrierte bereits zum dritten Mal eine Hand voll Rechter vor der Neuen Wache, der Kohlschen Gedenkstätte für die "Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft", und gegen das Holocaust-Mahnmal. Eine Mischung aus Stiefelnazis und Lodenmantelträgern folgte dem Aufruf des Bundes freier Bürger, der Republikaner sowie der NPD, die damit ihren Wahlkampf bestritten.

70 Prozent der Berliner sind, so bestätigen Umfragen, gegen das Denkmal. Nahe liegend also, dass sich die Rechtsradikalen auch Chancen ausgerechnet hatten. An den anderen Parteien gingen die Ergebnisse der Demoskopen nicht spurlos vorbei. Gab es im letzten Wahlkampf noch Absprachen, das Thema Holocaust-Mahnmal außen vor zu lassen, so bemühte sich jetzt vor allem die CDU, und allen voran deren Spitzenkandidat Eberhard Diepgen, deutlich zu machen, dass in Sachen Denkmal noch nicht das letzte Wort gesprochen sei.

Seitenwechsel: Schon vor der Wiedervereinigung wurde der Jüdische Friedhof in der Schönhauser Allee Ziel eines Angriffs. 1988 verwüsteten rechte Jugendliche das Gelände. Sie wurden gefasst und noch in der DDR zu Strafen von zweieinhalb und fünfeinhalb Jahren verurteilt. Bei ihrer Revisionsverhandlung erzählten sie der taz: "Das lief unter uns ab wie in einem Wettstreit und hat mächtig Spaß gemacht." Warum sollten "wir was gegen Juden haben, es gibt ja gar keine mehr". Kurzum: Man hat nichts gegen Juden, man ist einfach gelangweilt und, wie von selbst, findet man sich auf einem jüdischen Friedhof wieder, und fast von allein kippen massive Grabsteine um. Solche Sätze würde man natürlich auch heute von den Tätern hören, stünden sie denn vor Gericht.

Tun sie aber nicht, auch wenn die Liste antisemitischer Straftaten seit der Wiedervereinigung wesentlich länger geworden ist. Nach 1989 stiegen diese zunächst kontinuierlich an, sanken Mitte der neunziger Jahre, um sich dann wieder auf dem hohen Niveau der Wende-Jahre einzupegeln. Mitte September 1997 wurden erneut Gräber auf dem Friedhof in der Schönhauser Allee verwüstet. Schnell war von einem "Akt des Vandalismus" die Rede, ein politischer Hintergrund, so die Polizei, werde nicht vermutet, da keine Parolen oder Flugblätter nazistischen oder antisemitischen Inhalts gefunden worden seien.

Im November 1997 wurden dann auf dem Friedhof Weißensee offenbar gezielt einige Grabsteine, die Angehörige für ermordete Verwandte aufgestellt hatten, umgeworfen. Dieser Vorfall war nicht spektakulär genug und fand kaum Beachtung. Zum Jahreswechsel 1997/1998 folgte ein Anschlag auf den kleinen Gedenkstein, der in der Großen Hamburger Straße im Zentrum der Hauptstadt an das jüdische Altenheim erinnern soll, das von den Nazis zum Sammellager für die Deportation in die Vernichtungslager eingerichtet worden war. Noch zwei weitere Male wurde dieser Stein in den folgenden Monaten Ziel von Anschlägen. Dann, Ende September 1998, der erste Versuch, die Grabplatte Heinz Galinskis mit Sprengstoff in die Luft zu jagen; das gelang aber erst beim zweiten Anlauf drei Monate später.

In keinem dieser Fälle wurden die Verantwortlichen ermittelt. Dabei gibt es Hinweise dafür, dass es sich um organisierte Aktionen handelt: Für den Anschlag der vergangenen Woche etwa suchten sich die Täter gezielt ein Gräberfeld, von dem aus sie notfalls schnell hätten flüchten können.

Dieser Zunahme antisemitischer Gewalt hat niemand etwas entgegenzusetzen. So bleibt auch Andreas Nachama, dem Vorsitzenden der Berliner Jüdischen Gemeinde, nichts anderes übrig, als noch höhere Sicherheitsstandards zu fordern. Verwundert aber ist auch er darüber, dass diese Anschläge schlicht "normal" geworden sind - eine Normalität, die aus der Befreiung der Deutschen von Auschwitz resultiert.

Diese Gewöhnung liegt nicht nur daran, dass, wie im Falle der beiden jungen "DDR-Rechten", der Antisemitismus von einer Ideologie zu einem jederzeit abrufbaren Element deutscher Identität geworden ist. Kann man sich erst gar nichts anderes mehr denken, als dass die Zerstörungen Bestandteil deutscher Wirklichkeit sind, wird der Antisemitismus zur Rückversicherung der Zugehörigkeit zum nationalen Kollektiv.

Vor dem Hintergrund des aktuellen Erpressungsversuchs deutscher Unternehmen und der Regierung, nach dem sich die überlebenden Zwangsarbeiter mit Almosen zufrieden geben sollen (siehe auch Seite 27), können sich die Täter als Angehörige und Willensvollstrecker eines "Volkskörpers" jetzt besonders gestärkt fühlen. Ihr subjektiver Hass ist nur die Dreingabe zum Zugehörigkeitsgefühl, das sich über die symbolische zweite Ermordung der Toten herstellt.

Nur noch wenige lassen sich gegen solche Angriffe mobilisieren. Wie immer waren es auch diesmal vor allem die üblichen antideutschen und antinationalen Verdächtigen, die auf die Straße gingen. Ihnen überlässt man diese Aufgabe offenbar gern. Schließlich lassen sich, so lernfähig ist der linke Mainstream dann doch, mit Aktionen gegen den Antisemitismus hierzulande keine Leute "mobilisieren".

Vor wenigen Jahren noch sorgte dieser Zustand wenigstens für einen polarisierenden Streit, heute hat man die Arbeitsteilung akzeptiert. Die aktuelle Zuspitzung könnte dazu verleiten, den Streit zu Gunsten vorgeblicher Gemeinsamkeiten hintanzustellen. Das würde allerdings nur jenem Mainstream nutzen, der immer weniger in der Lage ist, antisemitische und revisionistische Diskurse kritisch zu reflektieren und ihnen stattdessen auf den Leim geht.