Märtyrerin Ronahi

Auch ein Jahr nach dem Tod der PKK-Aktivistin Andrea Wolf in Türkei/Kurdistan wissen die deutschen Behörden nichts über die genauen Umstände des Vorfalls.

Oktober 1998: Die Zeichen standen schlecht für die kurdische Sache. Gerade hatte der türkische Präsident Suleyman Demirel an der syrischen Grenze Truppen auffahren lassen, um dem arabischen Nachbarn Druck zu machen. Syrien solle endlich die PKK aus der Bekaa-Ebene vertreiben und den Kurdenchef Abdullah Öcalan ausliefern, so die Forderung aus Ankara. Und während sich Onkelchen "Apo" Öcalan bereits auf seine Flucht vorbereitete, gingen die Militärs im Südosten der Türkei massiv gegen Einheiten der Separatisten-Organisation vor.

So auch in der nordkurdischen Provinz Van. Bei einem Feuergefecht der Volksbefreiungsarmee (ARGK) mit türkischen Soldaten starben dort 24 Mitglieder der Kurden-Guerilla. Unter ihnen: Andrea Wolf (Jungle World, Nr. 46/98). Die Frankfurter Linksradikale war Mitte der neunziger Jahre untergetaucht, um nach eigenen Worten "aus sicherer Entfernung zu beobachten, was weiter passiert". Ihre Vorsicht war zweifellos berechtigt. Weil sie nach der Phantasie der Fahnder in den RAF-Anschlag auf den Weiterstädter Gefängnisneubau im Jahre 1993 verwickelt gewesen sein soll, hatte die Bundesanwaltschaft Haftbefehl gegen die damals 30jährige erlassen.

Einige Jahre später ließ Öcalan gegenüber der deutschen Presse wissen, was die gebürtige Münchnerin in einem öffentlichen Brief bereits hatte durchschimmern lassen: Andrea Wolf hatte sich unter dem Kampfnamen "Ronahi" dem "nationalen Befreiungskampf in Kurdistan" angeschlossen. Die PKK strahle, schrieb sie, die Hoffnung des "Auswegs aus der absoluten Sinnlosigkeit des Kapitalismus" aus. Nach ihrem Tod erklärte die Kölner Informationsstelle Kurdistan, "Ronahi" habe Mitte der neunziger Jahre "ihren Platz in den Reihen der YAJK, der Frauenarmee des Freien Frauenverbands Kurdistans", gefunden. Dort, wo in der "Frauenfrage" nach ihrer Meinung "reale Schritte der Veränderung" möglich seien, starb Andrea Wolf im Einsatz für die PKK.

Unter welchen Umständen die Deutsche an jenem 22. Oktober genau ums Leben gekommen ist, weiß das Auswärtige Amt auch jetzt, genau ein Jahr nach der tödlichen Auseinandersetzung, noch nicht. Dabei spricht vieles dafür, dass sie nach dem Gefecht festgenommen, "von türkischen Offizieren verhört" und dann "kaltblütig" erschossen wurde, wie Augenzeugen berichteten. Eine solche "extralegale Hinrichtung" wäre nach Einschätzung der in München gegründeten Internationalen Unabhängigen Untersuchungskommission "ein Verstoß gegen die Genfer Konvention bzw. das Völkerrecht".

Sei's drum, denkt man sich offenbar in Joseph Fischers Ministerium. Es gebe keine neuen Informationen, erklärt ein Sprecher des Auswärtigen Amtes auf Jungle World-Anfrage. Soll heißen: Die Behörde hat sich mit den unglaubwürdigen Angaben aus Ankara zufrieden gegeben, die von der türkischen Regierung zwei Wochen nach dem Vorfall verbreitet worden waren. Demnach sei Andrea Wolf "weder tot noch lebendig" gefunden worden. Über den Verbleib der Frau gebe es keine Hinweise. Natürlich habe man "die türkische Seite mehrfach und mit Nachdruck aufgefordert", der Sache nachzugehen, beteuert der Außenamt-Sprecher, passiert sei aber bislang nichts. Und so wartet man eben weiter.

Auch der Frankfurter Staatsanwalt Job Tilmann macht wenig Hoffnung auf mehr Klarheit. Seine Behörde hat im Januar 1999 Ermittlungen in dem Fall aufgenommen. Es gebe hinreichend Anlass, so Tilmann damals, "davon auszugehen, dass Andrea Wolf eines gewaltsamen Todes gestorben ist". Auch er ist heute "nicht fürchterlich weiter", wie er der Jungle World sagte. Man sammele alle Informationen und arbeite hierbei auch mit der Münchner Untersuchungskommission zusammen. Sollte sich ein Verdacht ergeben, "kann daraus vielleicht mal ein Rechtshilfeersuchen an den türkischen Staat folgen".

Die Konsequenz: Türkische Polizeibeamte müssten sich aufmachen, um eine möglicherweise verdächtige Einheit des Militärs zu vernehmen. Eine ziemlich unwahrscheinliche Sache, wie auch Ermittler Tilmann einräumt: "Ob die Türken das machen, ist natürlich eine andere Frage." Und wenn doch? Dann müsste ein noch abwegigerer Schritt folgen: Sollten sich nach den Vernehmungen tatsächlich Hinweise auf einen Mord ergeben, müssten türkische Behörden die Armee-Einheit im Rahmen einer Strafverfolgungsübernahme vor Gericht bringen. Im Klartext: Die kriegführende Regierung in Ankara soll ihr eigenes Militär wegen Verstößen gegen das Völkerrecht im Kampf gegen die PKK anklagen? Wohl kaum. Hypothetisch denkbar wäre auch eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof in Strasbourg. Hypothetisch.

Dennoch sei man, erklärt Oskar Schmidt von der Münchner Unabhängigen Kommission, "kleine Schritte" vorangekommen. Genaueres kann er beim gegenwärtigen Stand der Untersuchungen nicht öffentlich sagen. Dabei will das dreiköpfige Gremium weitaus mehr, als die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Man müsse fragen, heißt es in einer Erklärung, "inwiefern andere Regierungen - nicht zuletzt die deutsche - ihre Augen zugedrückt haben im Umgang mit der türkischen Regierung als Nato-Partner, potenzielles EU-Mitglied und geschätzter Adressat für Waffenlieferungen".

Dies zu klären liegt freilich nicht im Interesse von Fischers Behörde. Leicht erklärlich also, dass aus dem Auswärtigen Amt nichts Neues zu erfahren ist. Und so gab man sich auch auf zwei Kleine Anfragen der PDS im Bundestag zugeknöpft. Ob denn etwa deutsche Strafverfolger oder Nachrichtendienste vor der Festnahme Informationen über Andrea Wolf an die türkische Seite geliefert hätten, wollte die Abgeordnete Ulla Jelpke wissen. Nein, reagierte die Regierung, außer einer internationalen Ausschreibung zur Festnahme, die auch an Interpol Ankara weitergeleitet worden sei, habe man nichts weitergegeben. Ministeriums-Mitarbeiter wollten damals selbst erst über den "PKK-Fernsehsender Med-TV" vom Tod der Frau erfahren haben.

Über die Brisanz waren sich zumindest die Wiesbadener Kriminalisten schnell im Klaren. Eilig machte das Bundeskriminalamt die Spitzen von Sicherheitsbehörden und Regierung durch ein Fernschreiben auf die Sache aufmerksam. Als fleißige Beobachter des Med-TV dürften die Fahnder jedoch nicht allzu traurig über Wolfs Tod gewesen sein. Schließlich war sie gemeinsam mit zwei weiteren Deutschen im Programm des Senders aufgetreten, um für die Kurdische Arbeiterpartei zu werben. Und auch Onkelchen Öcalan prahlte einst mit einer "ganzen Einheit" von Internationalisten in seiner Organisation.

Nach dem Tod der Guerillera drückte der PKK-Chef im Spiegel dann auch seine "Hochachtung vor dieser großen Märtyrerin" aus. Tatsächlich dürften Apo damals, Mitte Dezember 1998, andere Sorgen geplagt haben: Aus der Bekaa-Ebene via Moskau nach Italien geflüchtet, sah Öcalan einer ungewissen Zukunft entgegen. Wenige Monate später entschuldigte er sich bei den Angehörigen türkischer Soldaten und forderte seine Organsiation von der Gefängnis-Insel Imrali aus auf, die Waffen niederzulegen.