Auf der Suche nach der Weltformel

Diktatur der Taktik? Terror der Systeme? Offensive? Defensive? Ein fußballerischer System-Check

Beckenbauer hatte wohl leider Recht. "Dieses Gerede über Systeme", dekretierte er am 21. Dezember 1998 im kicker, "alles Blödsinn, alles Käse!" - und servierte noch älteren Käse. Schon Dekaden zuvor hatte Cesar Luis Menotti, der Napoleon Bonaparte den besten Trainer der Geschichte nennt, gefragt, was die "Rederei vom 4-3-3 oder 4-4-2 oder 4-5-1" eigentlich soll: "Nur eine Mannschaft, die mehr auf Offensive setzt als auf Defensive, kann es schließlich zu etwas bringen."

Was lernte Menotti von Napoleon? "Er ließ sich immer wieder etwas Neues einfallen und konnte seine Truppen anfeuern wie kein Zweiter. Er hatte Fortune und ein Konzept." Über Massel verfügte Menotti 1978 im WM-Finale, in dem seine Argentinier die Niederländer nach Verlängerung 3:1 besiegten. Oranje-Trainer Ernst Happel nahm's gelassen: "Im Fußball liegen Glück und Pech dicht beieinander."

Dem Österreicher Happel gelang immerhin eine erfolgreiche fußballsystematische Neuerung. Er erfand, so die Sage, den Libero, also praktisch Beckenbauer - natürlich nicht vollends; kurz nach 1945 spielte der freie Mann bei Rapid Wien noch weit hinter der Abwehr. Außerdem konnte der Erfinder des Pressing - "zerschlagen, was noch gar nicht entstand, und sich dann selber entwickeln" (Happel) - Menotti auch bonapartistisch einiges vormachen.

Happel hatte, anders als Menotti, ein Konzept gegen Claudio Gentile, Verteidiger von Juventus Turin und der italienischen Nationalmannschaft, gefunden. Gentile allein holzte Menottis Team bei der WM 1982 aus dem Wettbewerb. 2:1 für Italien. Dabei wäre es so einfach gewesen. Ernst Happel schickte 1983 im Europacup-Finale seinen HSV-Linksaußen Bastrup auf den rechten Flügel. "Bluthund" Gentile schnappte zu, im Turiner Strafraum tummelten sich zwei linke Verteidiger, auf der rechten Abwehrseite war Platz für HSV-Vorstöße. Wieder entschied Gentile ein Spiel. 1:0 für Magath und den HSV.

Für Menotti, der 1978 sagte, seine Spieler hätten "die Diktatur der Taktik und den Terror der Systeme besiegt", kam es noch schlimmer. Sein ideologischer Erzfeind, Carlos Bilardo, gewann mit der argentinischen Nationalelf in Mexiko 1986 den WM-Titel, Diego Maradona verkündete: "Unter unserem heutigen Trainer spielen wir zwar einen anderen Stil als unter Menotti. Aber der ist wenigstens auch ehrlich."

Im Wettstreit der Systeme behielt wie so oft die Beton-Fraktion die Oberhand. Doktor Carlos Bilardo stellte 1986 nicht zwei Liberos auf, sondern begnügte sich mit einer Viererkette und zwei zusätzlichen Manndeckern. Vorne sollten es der Liebe Gott und Maradona richten. Man wähnte sich auf einer Zeitreise zum Turnier 1962 in Chile, wo 4-5-1 die beliebteste Formation war, was auch Ror Wolf so sah: "Es gab zum Beispiel achtmannstarke Mauern, / und beinah alle Stürme waren flau, / sie fingen sich im Abwehrdrahtverhau / von Haxenklopfern und von Knochenhauern."

Aber: Kein WM-Titel ohne Leute wie Maradona. Kommt es nur darauf an, "die ersten Geiger" (Otto Rehhagel) in den eigenen Reihen zu wissen? Und hatte Ernst Happel Recht, wenn er behauptete, der Fußball gerate "immer primitiver" - "weil die großen Figuren, die großen Spieler immer weniger werden"? Nicht ganz, verdeutlicht das Beispiel Pelé. Es gibt ja noch Systeme.

Pelé bemühen beide, Menotti und Bilardo; der eine, um Schönheit als Zweck des Spiels zu lobpreisen, der andere, um utilitaristisch auf den Erfolg zu verweisen: "Das Einzige, was im Fußball zählt, ist das Ergebnis. Wenn man auch noch schönen Fußball bietet, ist es umso besser. Das sagt auch Pelé." Und der muss es wissen. Schließlich war er bei der WM 1958 dabei, als, so der Fußball-Lehrer Dietrich Weise, die "wesentlichste Systemänderung im modernen Fußball" vollzogen wurde. Im torreichsten Finale der WM-Geschichte blamierte Brasilien Schweden mit 5:2. "Überall auf der Welt, wo Fußball gespielt wird", so Weise, "ist es das Ziel, Tore zu schießen und Tore zu vermeiden. Dieses eigentümliche Dilemma ist nur zu unterlaufen, wenn man sich vornimmt, lieber fünf Tore zu schießen, falls man schon vier hinnehmen muss."

Vicente Feola, brasilianischer Nationalcoach, löste das eigentümliche Dilemma systematisch. Er stellte vier Abwehrspieler auf eine Linie, ins Mittelfeld zwei Mann, vier stürmten. Das Mittelfeld wurde schnellstmöglich überbrückt. Das Spiel machten im Mittelfeld Didi, auf dem linken Flügel Garrincha und vor dem gegnerischen Tor Pelé.

Den Coupe Jules Rimet errang 1966 England - dank Alf Ramseys "wingless wonder". Er verzichtete einfach auf die wings. 4-3-3 war eigentlich die Formation, mit der Brasilien 1962 ohne den verletzten Pelé noch einmal triumphiert hatte - vier Jahre darauf agierten die Engländer ohne echte Flügelstürmer.

Die Reform der Abseitsregel 1925 hatte revolutionierend gewirkt. Herbert Chapman, Team-Manager von Arsenal London, erfand das "Safety First". Ein dritter Verteidiger musste her. "Wenn es uns gelingt, ein Tor zu verhindern, haben wir einen Punkt gewonnen. Schießen wir aber zudem noch ein Tor, dann haben wir beide Punkte." An der 3-2-5-Formation, die von oben einem W (Angriff) und einem M (Verteidigung) gleicht, kam kein Coach mehr vorbei.

Auch Reichstrainer Otto Nerz nicht. Den SA-Mann trieb nur ein Gedanke um: Wie lernen die Deutschen dieses WM? Im März 1934 schien er endlich am Ziel. Während eines Lehrgangs sollte das neue System erstmals erprobt werden. Vier Spiele gegen Derby County standen an. Trotz eines 5:2 im ersten Match wurde die Heimmannschaft gnadenlos ausgepfiffen. Nerz tobte und ließ vor dem zweiten Spiel durch Fußball-Gauführer Zündorf verbreiten: "Die Spieler der deutschen Elf haben strengste Anweisung, nach einem bestimmten System zu handeln und sich auf keinen Fall durch andere Anordnungen oder durch Zurufe von draußen dieser gestellten Aufgabe zu entziehen. (...) Es ergeht daher an die Zuschauer die Bitte, von draußen Anordnungen und Zurufe wie 'Mittelläufer nach vorn' (...) zu unterlassen, weil dadurch die Spieler nur irritiert werden und von der Erfüllung der von ihnen verlangten Aufgabe abgehalten werden."

Der autoritäre Staat machte es möglich, Fritz Szepan & Co. belegten wenige Monate danach bei der WM den dritten Platz. Da vier Jahre später aber - wie die auch 1945 ff. stramme Nationalsozialistin Winifried Wagner zu sagen pflegte - "U.S.A., Unser Seliger Adolf" höchstpersönlich die Mannschaft für das Weltturnier in Frankreich aufstellte, halfen kein Aufruf, kein Zündorf und nichts. Die "deutsche Elf war", bemerkte eine Pariser Zeitung, "schlecht gelötet". Das "Proporzsystem" Hitlers, der befahl, eine Spielermischung aus "Altreich" und "angeschlossener Ostmark" zu bilden, erwies sich als Griff in die Scheiße - zum einen, weil Starstürmer Matthias Sindelar die Teilnahme verweigerte, zum anderen, weil das WM der Deutschen nicht mit dem österreichischen "Scheiberlspiel" harmonierte.

Die ungarische Nationalelf unter Gustav Sebes interpretierte 1954 das bis dato gültige System der Systeme, das britische WM, moderner als die Briten. Mittelstürmer Nandor Hidegkuti spielte nicht den gewohnten Sturmtank in der fünf Mann starken Angriffsreihe, sondern zog sich nach anfänglichen Auftritten in der Sturmspitze als Ballverteiler zurück, wohin ihm entsprechend Herbert Chapmans klassischer Formel der gegnerische Mittelläufer folgte. Das Resultat: sechs Tore und sieben beim Rückspiel ein halbes Jahr später. Insgesamt viermal traf Nandor Hidegkuti, ebenso oft wie Ferenc Puskas. Der nächste Weltmeister konnte nur Ungarn heißen.

Der "Furor teutonicus", von dem 1954 bereits nach der WM-Vorrunde die Rede war, verhinderte dies leider. Liebrich trat im ersten Spiel Puskas so zusammen, dass der noch im Endspiel humpelte. Was über Jahrzehnte die britischen Mannschaften ausgezeichnet hatte, das Kraft- und Tempospiel, bescherte den Deutschen den Titel.

Ja, "es gibt viele Totengräber des Fußballs, ihr Chef ist ohne Zweifel Herrera", könnte man Manager Julius Ukrainczyk beipflichten - um zu ergänzen: Streng genommen ersann nicht Herrera, sondern Nereo Rocco den "Catenaccio". Rocco, in den Fünfzigern Coach beim FC Padua und Lehrmeister des späteren italienischen Weltmeistertrainers Enzo Bearzot verpasste seiner im Prinzip chancenlosen Mannschaft das passende Konzept. Eigentlich erfand er, nach Happels Vorarbeit, den Libero als freien Mann hinter der Abwehr; wohingegen Herrera beansprucht, schon Ende der vierziger Jahre den freien Mann vor der Abwehr installiert zu haben, um ein 1:0 zu halten. "1:0. Das zählt. Sonst nichts."

1972 nannten Beckenbauer, Günter Netzer und Helmut Schön die Methode, mit der sie England in Wembley verhexten, "Ramba-Zamba". Das ständige Wechselspiel zwischen Libero und Mittelfeldregisseur klappte perfekt. Nach Jürgen Sparwassers 1:0 jedoch grabschte sich Beckenbauer den Taktstock und gab ihn nicht mehr ab. Schön sortierte Netzer endgültig aus. Fürs Endspiel gegen die Niederlande setzte man auf Zerstörung. Im Training musste Netzer das Cruyff-Double für Hubert Vogts mimen.

Schöns gegen alle Systematik gerichtetes Trainercredo hat Beckenbauer geklaut. "Geht raus und spielt Fußball", sprach Manchester United-Trainer Matt Busby bereits vor vierzig Jahren zu seinen berühmten Babys, von denen am 6. Februar 1958 bei einem Flugzeugabsturz in München-Riem acht starben. Womöglich erklärt sich so der Champions-League-Triumph ManUs über den FC Bayern München vom 26. Mai 1999 - systematische Gerechtigkeit. Oder einfach Glück?

Frei nach Machiavelli lautet die Antwort: Wer Fortuna nicht begehrt, den wird sie nicht küssen. System hin oder her.

Der Text erscheint im November in Jürgen Roths "Rätsel Fußball", Kontext Verlag, Essen.