Avanti, D’Alema!

Nach einer vermeintlichen Spionage-Affäre finden Italiens Parteien zu überraschenden Positionen.

Die Frage, was Verrat ist, ist immer auch eine des Zeitpunkts ihrer Bewertung gewesen. Das wird zumindest über den Verrat im 20. Jahrhundert behauptet. Über jenen Zeitpunkt glaubte aber nun die italienische Rechte bestimmen zu können, indem sie eine Liste von Italienern, die angeblich für den KGB spioniert haben sollen, zum Anlass nahm, gleich der Geschichte der italienischen Kommunisten den Prozess zu machen (Jungle World, Nr. 43/98).

Die Mitrochin-Liste, benannt nach einem russischen Geheimdienstler, der sein Wissen bei den Briten zu Geld gemacht hat, war seit drei Jahren allen Regierungen, die der derzeitigen Regierung unter Massimo D'Alema vorausgingen, bekannt. Doch erst vor zwei Wochen wurde sie auf Druck einer Zeitung des Berlusconi-Konzerns durch einen Richter geprüft und anschließend in der Öffentlichkeit bekannt.

Die Untersuchung führte der Richter Franco Ionta, der in der Vergangenheit schon durch die phantasiereichen Konstruktionen von Verschwörungen aufständischer Anarchisten, sardischer Banditen, der Mafia und armenischer Terroristen aufgefallen war. Doch selbst seine wohlwollende Begleitung wird der Liste kaum zu der Bedeutung verhelfen, die manche in ihr sehen wollen.

Denn in der durch den britischen Geheimdienst erfolgten Transkription der Mitrochin-Papiere wimmelt es an spekulativen und falschen Zuschreibungen. Demnach war "Zac" - offenbar der aus dem linken Flügel der Christdemokratischen Partei (DC) stammende Benigno Zaccagnini, ab 1976 Parteivorsitzender - angeblich der Kode-Name eines KGB-Agenten im Parteirat der Christdemokraten. Aus Adriana Faranda und Valerio Morucci, einem bekannten Renegaten-Pärchen der Roten Brigaden, werden in dem Dokument zwei männliche Personen. Ein harmloser Waldenser-Pater entpuppt sich unter dem Decknamen "Turist" als Agent aus dem Reich des Bösen.

Das linksliberale Wochenmagazin L'Espresso fungierte nach den neuesten Erkenntnissen komplett als Organ des KGB, der auch in den Tageszeitungen Corriere della Sera und Repubblica verlässliche Mitarbeiter hatte. Und dass der heutige Chef der an der Regierung beteiligten Kommunisten, Armando Cossutta, als eingeschworener Gegner von Enrico Berlinguers Eurokommunismus Kontakte zu Moskau hatte, ist wahrlich kein Geheimnis.

Der Griff in den Mülleimer der Geschichte gilt wohl weniger ihrer Aufarbeitung, sondern soll die Arbeit der Commissione stragi bei der Untersuchung von Komplotten, Anschlägen, Geheimdienst-Skandalen und Putschversuchen der Rechten kompensieren. Diese hatten seit dem Ende der sechziger Jahre mit rechten Massakern in Mailand, Brescia und Bologna eine Blutspur durch Italien gezogen. So war es kein Zufall, dass die Anhänger von Forza Italia-Chef Silvio Berlusconi und die Wendefaschisten von Alleanza Nazionale (AN) forderten, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einzurichten, der sich mit der sowjetischen Einflussnahme auf die italienische Innenpolitik beschäftigen soll.

Zu schön wäre es, endlich einmal den Spieß umzudrehen und von den Faschisten, dem CIA und den eigenen Geheimdiensten auf die echte Gefahr, die im Kalten Krieg von den Kommunisten ausging, zurückzukommen. Als Nebeneffekt könnte vielleicht sogar die unselige Schmiergeld-Affäre abgehakt werden, wegen der Berlusconi laufend Ungemach erleiden muss. Und am Ende könnte auch der ehemalige Sozialistenchef Bettino Craxi in einem Akt nationaler Versöhnung aus seinem Exil im tunesischen Hammamet zurückkehren.

Ein alter Bekannter, der ehemalige Gladio-Häuptling Francesco Cossiga, versucht ebenfalls die Gunst der Stunde zu nutzen, um seiner republikanischen Zentrumsunion mehr Gewicht zu verschaffen: Er machte sich die Forderung nach einer Kommission zu Eigen und drohte, seine Leute aus der an der Regierung beteiligten Mitte-Links-Koalition abzuziehen, wenn es nicht zu einer parlamentarischen Untersuchung kommen würde.

Was an der Affäre überrascht, ist die Reaktion von Massimo D'Alemas Linksdemokraten, die dem Drängen Cossigas nachgaben und ihm zudem noch den auch von Berlusconi anvisierten Vorsitz des Ausschusses, der über ihre kommunistische Vergangenheit richten soll, antrugen. D'Alema, ehemals Vorsitzender der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei Italiens (PCI), geht offenbar bei der Entsorgung des Kommunismus lieber einen Schritt weiter als notwendig - vor allem wohl, da ihm gerade eine Neuauflage des Olivenbaum-Bündnisses, das er mit Cossigas tatkräftiger Unterstützung zu zerstören half, ins Haus steht.

Da lag es nahe, sein Bündnis mit Cossiga zu erneuern. Gleichzeitig aber müssen die Demokraten um den Populisten Antonio Di Pietro zufrieden gestellt werden. Di Pietros Partei hatte bei den jüngsten Europawahlen nicht schlecht abgeschnitten und zieht es nun in die Regierung, wo sie den Einfluss Cossigas mindern möchte. Und so tauchten jetzt nicht von ungefähr Gerüchte auf, die etwas von Ermittlungen der Untersuchungsrichter in Palermo wissen wollten: Nachforschungen, die sich mit Cossigas Mitgliedschaft beim Souveränen Militärorden von Malta und seinen Machenschaften in der geheimen Militärorganisation Gladio beschäftigen sollen.

Berlusconi, Mitglied der Geheimloge Propaganda Due (P2) - die in den siebziger Jahren eine Art Parallelregierung in Italien war - sowie Wendefaschist Gianfranco Fini passten all diese Volten nicht, die die Mitrochin-Angelegenheit ausgelöst hat. Mit einer Kommission unter Cossigas Vorsitz wollten sie nichts zu tun haben. So begannen sie im Senat, den Ausschuss zu boykottieren. Damit ist es um die Mitrochin-Affäre erst einmal ruhiger geworden.

Düpiert bleiben dennoch jene, deren Vergangenheit, als Dissidenten oder Parteimitglieder, in irgendeiner Form mit der PCI verknüpft ist. Dass sich D'Alema und Walter Veltroni, Generalsekretär der Linksdemokraten, dazu versteigen, die als "kriminell" apostrophierte Geschichte des PCI nun endgültig bewältigen zu wollen, will ihnen nicht in den Kopf.

Hinzu kommt, dass diese neuerliche Geschichtsrevision ausgerechnet dem früheren Christdemokraten Cossiga überlassen werden soll. Noch paradoxer: Ausgerechnet Cossiga ist es, der zuletzt die kommunistische Kultur inklusive "Josef Stalin, den wichtigsten Staatsmann des XX. Jahrhunderts" (Cossiga) gegen den Defätismus Veltronis ("Kommunismus und Freiheit schließen einander aus") in Schutz nahm. Wenn Don Camillo und Peppone jetzt auch noch ihre Rollen tauschen, wer mag da noch durchblicken?