Im freien Spiel der Kräfte

Das französische Parlament hat das Gesetz zur 35-Stunden-Woche verabschiedet. Jetzt bereiten die Unternehmer eine Verfassungsklage vor.

Die sozialistische Arbeitsministerin Martine Aubry konnte zufrieden sein. Das französische Parlament hat vergangene Woche endlich ihr Gesetz zur Einführung der 35-Stunden-Woche in erster Lesung verabschiedet. Doch bahnt sich schon die nächste Auseinandersetzung an. Dieses Mal nicht mit Dissidenten der Linkskoalition oder der konservativen Opposition, sondern mit dem Unternehmerverband Medef (Bewegung der Unternehmen Frankreichs).

Der Verband will diese Woche darüber entscheiden, ob er sich aus dem paritätisch zusammengesetzten Verwaltungsrat der Arbeitslosenkasse Unedic zurückzieht. Damit würde er eine der zentralen Institutionen des französischen Sozialversicherungssystems lahm legen. Die Entscheidung machen die Unternehmer, die sich noch vor kurzem Nationaler Rat der Patrons (CNPF) nannten, davon abhängig, ob ihre Wünsche im Aubry-Gesetz berücksichtigt werden.

Der Konflikt kommt der Regierung äußerst ungelegen, ist es doch ihr Ziel, die 35-Stunden-Woche im Konsens durchzusetzen. Daher bleibt es auch bei der geplanten Übergangsfrist: Große und mittlere Unternehmen haben bis Ende nächsten Jahres Zeit, das Gesetz einzuführen; Betriebe mit weniger als 20 Beschäftigten sogar bis 2002. Um sowohl Unternehmer wie Gewerkschaften zufrieden zu stellen, werden zwei neue Regelungen im französischen Arbeitsrecht eingeführt. Zum einen wird die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften künftig stärker als bisher an ihre "Repräsentativität", also ihre reale Verankerung unter den Beschäftigten, angekoppelt.

Bisher war es jeder Einzelgewerkschaft möglich, ein für alle Beschäftigten einer Branche oder eines Betriebes verbindliches Abkommen abzuschließen. Einzige Voraussetzung dafür war, dass sie einem der fünf großen, als "repräsentativ" anerkannten Gewerkschaftsbünde beigetreten war.

Im Gegenzug verlieren einzelne Beschäftigte das Recht, flexible Arbeitszeiten abzulehnen. Bisher betrachtete die Rechtsprechung feste Arbeitszeiten als "ungeschriebenen Bestandteil" eines Arbeitsvertrags. Mit dem Aubry-Gesetz kann ein Betrieb nun die Arbeitszeiten je nach Auftragslage regeln. Widersetzt sich ein einzelner Beschäftigter dieser Anforderung, stellt seine Weigerung einen Entlassungsgrund dar.

Denn flexible Arbeitszeiten sind in dem Aubry-Gesetz ausdrücklich vorgesehen. So können die Unternehmen statt 35 Stunden wöchentlich eine Arbeitszeit von 1 600 Stunden jährlich vereinbaren, die dann in Abhängigkeit von den betrieblichen Erfordernissen unregelmäßig über das Jahr verteilt werden kann.Die flexible Arbeitszeit muss den Beschäftigten zwar mindestens sieben Tage vorher mitgeteilt werden. Diese Frist kann aber durch ein Kollektivabkommen auf Branchen- oder Betriebsebene verkürzt werden, "wenn die besonderen Eigenschaften der wirtschaftlichen Aktivität (des Betriebes) dies erfordern".

Allerdings muss sich der "Sozialpartner" auch dazu verpflichten, für die "beruflichen und persönlichen" Zwänge, die für die Beschäftigten mit variablen Arbeitszeiten verbunden sind, "nachvollziehbare und angemessene Gegenleistungen" zu ihren Gunsten zu vereinbaren. Diese Regeln gelten jedoch nicht für die Leitenden Angestellten. Für Manager in Führungsposition gibt es - in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung - keine gesetzlichen Beschränkung bei der Arbeitszeit.

Am anderen Ende der Skala stehen jene Angestellten, die fest in einer Arbeitsgruppe mit anderen Beschäftigten integriert sind - etwa Techniker, die eine Maschine beaufsichtigen. Diese cadres fallen unter dieselben Bestimmungen wie die übrigen Beschäftigten und damit auch unter die neue 35-Stunden-Regelung.

In der Mitte zwischen diesen beiden Gruppen stehen alle Angestellten, Techniker und Ingenieure, die eine mehr oder minder selbständige Tätigkeit im Betrieb ausüben. Sie werden nach dem Aubry-Gesetz mit jenen Lohnabhängigen gleich gestellt, die nicht den Statuts höherer Angestellter besitzen, aber eine "autonome" Tätigkeit außerhalb eines festen Arbeitsorts ausüben - etwa Vertreter oder Informatiker, die beim Kunden tätig werden. Diese Beschäftigten sind nach dem Aubry-Gesetz einer völlig neuen Arbeitszeitregelung unterworfen: Ihre Arbeitszeit wird nicht länger nach Stunden, sondern nach Arbeitstagen im Jahr berechnet, und sie wird künftig, nach Einführung der 35-Stunden-Woche, maximal 217 Tage statt bisher 233 betragen; damit profitieren sie von einer Arbeitszeitverkürzung um 16 Tage im Jahr, gegenüber 22 für die übrigen Beschäftigten. Im Gegenzug wird ihre Arbeitszeit innerhalb eines Tages nicht mehr bemessen.

Die einzige rechtliche Obergrenze bildet die (allgemeine) Vorschrift des Arbeitsgesetzbuches, dass mindestens elf Stunden Ruhezeit pro Tag gewährt werden müssen. Im Umkehrschluss bedeutet das die Legalisierung regelmäßiger 13-Stunden-Tage für die entsprechende Beschäftigtenkategorie.

In der Regierungskoalition waren diese Bestimmungen umstritten; einzelne Abgeordnete der Linkskoalition, wie der Grüne Yves Cochet und der Kommunist Maxime Gremetz, konnten in letzter Minute noch eine Reihe von Änderungsanträgen im Parlament durchsetzen, die das Reformwerk mit minimalen sozialen Garantien versehen sollen. Doch am Ende stimmten fast alle Abgeordneten der fünf Parteien, aus denen sich die Linkskoalition unter Regierungschef Lionel Jospin zusammensetzt, dem Gesetzesvorhaben zu. Die Ausnahme bildeten die beiden KP-Abgeordneten vom "orthodoxen" Flügel, Georges Hage und Patrice Carvalho, die gegen den Text votierten, während ein weiterer Kommunist sowie ein Vertreter der linksnationalistischen Partei von Innenminister Jean-Pierre Chevènement sich der Stimme enthielten.

Ende November soll das Aubry-Gesetz in die zweite parlamentarische Lesung gehen. Doch auch das französische Verfassungsgericht könnte sich noch in die Auseinandersetzung um das Gesetz einmischen - die konservative Opposition hat bereits eine Verfassungsbeschwerde vorbereitet. Die Vorlage, die allen Abgeordneten der Rechtsopposition zugeschickt wurde, ist direkt vom Unternehmerverband Medef formuliert worden. Den Patrons geht das Aubry-Gesetz immer noch zu weit. Der Verband drängt die bürgerlichen Parlamentarier, gegen ein Gesetz zu klagen, das seiner Ansicht nach eine unzulässige Einmischung der Politik in das freie Spiel der Marktkräfte darstellt.