Nachholender Rassismus

Die Geschichte des deutschen Rechtsextremismus seit dem Fall der Mauer lehrt vor allem eines: Es gibt keinen Konsens darüber, was das Thema ist.

Die These ist beliebt, verführerisch und falsch: Früher war alles besser. Wer warnt und mahnt und düster prophezeit, die Nazis würden immer stärker, übt sich ausschließlich in Gruppendynamik. Das ist keine politische Aussage mit Realitätsgehalt, sondern nur der Appell an seinesgleichen, die Reihen fest geschlossen zu halten. Am Lausitzer Platz in Berlin-Kreuzberg steht über der Kirchentür die flehentliche Parole, die dem Tenor mancher Antifa-Broschüre angemessen ist und ebenso nur die Untergangsstimmung der eigenen Klientel bedient: "Herr, bleib bei uns, denn es will Abend werden."

Seit dreißig Jahren ist das Wählerpotenzial rechtsextremer Parteien in Deutschland gleich geblieben. Mehr als gut zehn Prozent der Wählerstimmen - auch auf kommunaler Ebene - gab es auf Dauer nie, weder für Adolf von Thadden, der 1964 die NPD gründete, noch für den Bonsai-Hugenberg Gerhard Frey, der im letzten Jahr in Sachsen-Anhalt das Milieu fast vollständig aktivierte. Das wird vermutlich auch so bleiben. Darauf kommt es aber nicht an. Wie viele Menschen rechtspopulistische oder bekennende Neonazi-Parteien wählen, ist unerheblich. Was zählt, ist die Perspektive der Opfer. Wer die Folgen rassistischer Gewalt auf der Straße gespürt hat oder in den Augen der braunen Szene und ihrer Sympathisanten als Gegner gilt, dem ist es ganz gleich, wer und ob jemand ein Kreuzchen bei den Republikanern, der NPD oder einer anderen Nazi-Splittergruppe gemacht hat.

Die Geschichte des deutschen Rechtsextremismus seit dem Fall der Mauer lehrt vor allem eines: Es gibt keinen Konsens darüber, was das Thema ist. Der Kohl-Berater Michael Stürmer schrieb schon 1986: Der gewönne, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt, die Vergangenheit deutet. Wer Rechtsextremismus definiert, versucht, die eigene Interpretation der politischen Wirklichkeit an den Mann und die Frau zu bringen. Deshalb gleicht das begriffliche Instrumentarium, dessen man sich bedient, um die Ursachen von Rassismus und Antisemitismus zu beschreiben, einem Bauchladen, aus dem jeder eine passende Phrase hervorholt, um die Interessen der eigenen Lobby in der Öffentlichkeit durchzusetzen. Das gilt für Politsekten wie die MLPD genauso wie für den Bürgermeister, der nur Gelder für seine Sozialarbeiter auftreiben will. Ausländerfeindlichkeit, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Gewaltbereitschaft, Xenophobie, Antisemitismus, Rechtsradikalismus, Rechtsextremismus, politischer Fundamentalismus - der jeweilige Begriff ist politisches Programm, das konkurrierende Sichtweisen ausschließt.

Eine Theorie, die das heutige Nazi-Milieu hinreichend beschreiben will, muss sowohl die Wurzeln des klassischen Nationalsozialismus als auch die deutsche Alltagskultur in West und Ost in den neunziger Jahren analysieren. Populärpsychologische Konzepte wie Christian Pfeiffers "Erziehung zum Hass" - wer wie in der Kinderkrippe aufs Töpfchen ging und deshalb autoritär fixiert sei - interpretieren Antisemitismus und Rassismus als individuelle Disposition, die dem Sozialarbeiter und - in schweren Fällen - dem Psychologen, etwa einem Wilhelm-Reich-Schüler, zu überantworten wäre. Diese These ist typisch deutsch: Es sei nur falsch erzogen worden. Dem entspricht die regierungskompatible Heitmeyer-Schule, die - salopp formuliert - behauptet: Der Kapitalismus sei eigentlich super, wenn sich nur nicht die Milieus auflösen würden. Die entwurzelten deutschen Individuen gehen dann quasi automatisch "Fidschis klatschen". So seien die Deutschen eben, suggeriert diese Theorie und appelliert an den Staat, eine schnelle Eingreiftruppe von Lehrern und Berufsjugendlichen zu finanzieren.

"Rechtsextremismus" meint: eine bestimmte Interpretation der Realität, die als ideologische Option im Kapitalismus schon immer vorhanden ist, artikuliert sich - kulturell und politisch. Der rassistische National(sozial)ismus war eine Art säkularer Religion: Das Individuum sollte sich neu erschaffen, indem es sich zu Gunsten eines übergeordneten Ganzen, der Volksgemeinschaft, auflöste. Die Nation, biologistisch definiert, ist die Basis jedes rassistischen Vorurteils. Der Antisemitismus als weltanschauliche Klammer aller Nazis existierte aber in Mitteleuropa länger als nationaler Chauvinismus. Er funktioniert, auf der Basis christlicher Mythen, auch ohne den Staat. Es wäre verkürzt, ihn immer nur in einem Atemzug mit rassistischen Theorien zu nennen.

Die Aufgabe bekennender Nazis war es seit 1945 immer, diese ideologische Option öffentlich zu machen, als inszenierten Tabubruch und als Medienspektakel. Vor 1989 sonnte sich die bundesdeutsche Gesellschaft in dem Gefühl, die Nazis seien eine Randgruppe, die am Ende ein polizeiliches Problem bleibe. Die zeitweiligen Wahlerfolge der Republikaner beunruhigten nicht sonderlich, waren deren Funktionäre und Wähler doch Fleisch vom Fleisch der Volksparteien. Man interpretierte sie als Ergebnis der zeitweiligen Schwäche der konservativen Parteien, die eigene Klientel nicht fest genug an sich binden zu können. Nicht zu Unrecht galt es innerhalb der CSU als ausgemacht, dass es unter Franz Josef Strauß keine Republikaner gegeben hätte.

Der Rest blieb Krawall. Als prominentester Neonazi des Westens galt Michael Kühnen, nicht weil er Organisator und Vordenker der Ultrarechten gewesen wäre, sondern weil er sich der Medien bediente, sie in seinem Sinne instrumentalisierte. Kühnen wurde schon im Dezember 1978 zu sechs Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt, weil er auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg in schwarzer Uniform und mit Koppelschloss demonstriert hatte. Kühnen war, dank der skandalisierenden Berichte des "Schwarzen Kanals", in der DDR bekannter als die damalige Führungsriege der NPD.

Der aus gutem katholischem Elternhaus stammende Nazi schrieb, noch bevor er einen Fuß in den Osten gesetzt hatte, die mediengerechten Tabus lägen "zu Dutzenden" auf der Straße: "Das Judenproblem, der Vergasungsschwindel, die Kriegsschuldlüge, die geschichtliche Größe Adolf Hitlers, die illegale NSDAP". Ein Mittel, politischen Erfolg zu haben, seien "einfach dreißig Mann mit Knobelbechern und braunen Hemden, eine Adolf-Hitler-Gedenktafel oder das schlichte und ehrliche Bekenntnis: 'Ich bin kein Demokrat'. (...) Die Presse heult auf, der Justiz- und Polizeiapparat setzt sich in Bewegung, und große Schlagzeilen reißen eine kleine Bewegung aus ihrer politischen Bedeutungslosigkeit."

Mit seinem Rezept hatten Kühnen und seine Epigonen bis Anfang der neunziger Jahre vor allem bei der Räuber-und-Gendarm-Antifa Erfolg, die sich darin überbot, immer wieder neue "Drahtzieher im braunen Netz" zu entlarven und diese innerhalb der Szene prominent zu machen. Wer als Nazi in keinem Antifa-Steckbrief auftauchte, hatte etwas falsch gemacht. Diese Interpretation, was die Gefahr sei, entsprach dem gesellschaftlichen Konsens: Das Böse wäre eine kleine, radikale, extremistische Minderheit, die sich in glatzköpfigen Brutalo-Jugendlichen und einigen wenigen Braunhemd-Karikaturen sinnlich manifestierte. Man müsse nur dafür sorgen, dass sich diese nicht mehr artikulieren können.

Je seltener und skurriler sich Neonazis in der Öffentlichkeit präsentiert hatten, umso mehr konnte man sich noch an das Diktum des konservativen Soziologen Erwin Scheuch halten, der schon 1967 behauptete, in allen westeuropäischen Staaten existiere ein vergleichbares rechtsextremes Potenzial. Nazis würden nicht aussterben, sie gehörten zur "normalen Pathologie" der modernen Industriegesellschaft, so normal wie Karies oder Grippe. Auch der Verfassungsschutz, der Think-Tank der Totalitarismus-"Forschung", schlug in diese Kerbe. Man benötigte eine Theorie, die der Gesellschaft öffentlich bescheinigte, dass sie den braunen Schatten der Vergangenheit abgestreift hatte. Dazu taugte der Begriff des "Extremismus" - selbstredend von Links und Rechts. Nur die waren das Problem, dem Rest erteilte man eine Generalabsolution.

In der DDR behandelte man das Problem ähnlich. Es gab zwar offiziell keine Extremisten, dafür aber "negativ-dekadente Persönlichkeiten". Das braune Milieu entwickelte sich schon in den achtziger Jahren in beiden deutschen Staaten parallel und vergleichbar. Die Motivation der Ost-Faschos unterschied sich kaum von der gleichaltriger Neonazis im Westen. "Sie sehen keine Aufstiegschance in einem System, in dem Herkunft und Vermögen mehr zählen als Leistung. (...) Haß auf die bürgerliche, verlogene Welt, die ihnen die Heimat stiehlt." Das schrieb der Nazi Michael Kühnen schon 1978.

Die rechte Szene im Osten gefiel sich darin, die sekundären deutschen Geschlechtsmerkmale von den "Stinos", den Stinknormalen einzufordern: Ordnung, Disziplin, Sauberkeit. Frei nach dem altbekannten Motto: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Für Grufties und Punks gab es also keinen Platz, und wehe, es wären Zigeuner gekommen.

Eine rechte "Szene" konnte erst dann eine kulturelle Ausstrahlung entwickeln, als es ihr gelang, Segmente der jugendlichen Subkulturen zumindest ikonografisch zu vereinnahmen. Die Abwesenheit von Frisur symbolisierte, neben anderen Zeichen, ursprünglich nur die proletarische Absage an den Lifestyle der Hippies. Die musikalische Tradition der Skinheads, vor allem der Ska, ist authentisch multikulturell und anti-kommerziell - wie der Ursprung jeder echten Jugendkultur im Spätkapitalismus. Mit bloßer Nazi-Nostalgie kommt man nicht weit. Rechte Bewegungen waren immer nur dann erfolgreich, wenn es ihnen gelang, sich als "jugendlich", "zukunftsgewandt" und progressiv zu verkaufen - wie schon die NSDAP. Kultureller Erfolg heißt heute, kognitive Dissonanz zu erzeugen - eine bewährte Methode aus der Werbung: bekannte Symbole neu zu kombinieren und sie etwas bedeuten zu lassen, was auf die eigene Idee hinweist. Deswegen zitiert die Rechte ununterbrochen erfolgreiche Agitprop der Linken, zum Beispiel: "Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt" und "Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht".

Die Neonazis im Westen blieben gegenüber ihren "Kollegen", den Faschos der DDR, bis 1989 immer im Hintertreffen: Sie hatten das verhasste System konzeptionell nie ernsthaft in Frage gestellt, obwohl sie zahlenmäßig genauso gut dazu in der Lage gewesen wäre wie die RAF und die Antiimperialistischen Zellen. Es ging nie um ein neues Motto, nur um die Imitation der Nazi-Zeit. Die Rechten der DDR galten aber schon immer als Fundamental-Opposition. Das ist die einzige und ernst zu nehmende Veränderung des letzten Jahrzehnts: Der fiktive "nationale Sozialismus", dessen Idee die DDR unfreiwillig an ihre Kinder und Enkel vererbt hat, wird von der rechten Szene aufgegriffen. Sie verfügt damit zum ersten Mal nach 1945 über eine scheinbar realistische soziale Projektionsfläche, einen "dritten Weg", der das rebellische und kritische Potenzial der Jugend absaugt. Deswegen vollführen diejenigen Nazi-Kader, die sich ernsthaft mit theoretischen Modellen beschäftigen, jedweden abstrusen theoretischen Schwenk, um ihrer Klientel nach dem Munde zu reden. "Hitler hat die Ideale des Nationalsozialismus an die Großbourgeoisie verraten" ist der letzte ideologische Schrei der braunen Propaganda.

Das Pogrom von Hoyerswerda im September 1991 und das von Rostock ein Jahr später markieren die Wende nach der Wende. Wie passt das zusammen? Pogrome, die es in keinem westeuropäischen Staat nach 1945 gegeben hat - und eine rechte Szene, die weniger gut organisiert ist als anderswo und auch politisch im Vergleich erfolglos geblieben ist? Wie immer, wenn eine politische Bewegung Erfolg hat, liegt das auch an der Schwäche des Gegners. Man kann sich darüber streiten,was die Ursache und was die Wirkung war: der rassistische Pöbel oder die politische Diskussion, die scheinbar zum Thema Asyl geführt wurde, in Wahrheit aber die Einwanderung meinte.

Gut gemeintes oder vorwurfsvolles Jammern hülfe nicht, es führt kein Weg zurück zum Status quo ante. Die Linke hat die Schlacht verloren, weil es der Rechten, auch den Neonazis, gelungen ist, die Begriffe im öffentlichen Diskurs zu besetzen und zu definieren: "Ausländer" und "Asyl" statt "Einwanderer" und "Menschenrechte".

Die NPD prägte 1966 im bayerischen Landtagswahlkampf die Parole "Gegen Überfremdung" und holte damals acht Prozent der Wählerstimmen. Sie konnte als Erfolg buchen, dass ein Vierteljahrhundert später die Mehrheit der Deutschen das Thema "Einwanderung" ähnlich resümierte. Die Linke hatte zwar die Moral auf ihrer Seite, aber als Idee nur, alles zu lassen, wie es war. Wer über Nazis jeder Couleur redet, darf über den Zustand der Linken nicht schweigen.

Die Lage ist durch die Wiedervereinigung also nicht schlechter geworden, nur anders. In beiden deutschen Gesellschaften - im Westen wie im Osten - ging es unter der Oberfläche immer um die Frage: Wer darf dazugehören - und unter welchen Bedingungen? Die DDR machte einen weltanschaulichen Salto rückwärts und definierte sich nicht nur als Staat, sondern, als wenn das nicht ausreichte, als Nation, deren Mitglieder außerdem das Hoheitsgebiet nicht zu verlassen hatten.

Damit ging sie noch hinter die Ideale der Pariser Kommune zurück. Wer sich den Regeln nicht fügte, wurde aus- oder eingesperrt. Damit vertagte die SED auch die Entscheidung, mit der sich der westeuropäische Kapitalismus längst konfrontiert sah: Staatsgrenzen sind im Spätkapitalismus zwar ökonomisch obsolet, sie dienen aber dazu, wenn man es in klassischer Marxscher Terminologie ausdrückt, die weltweite industrielle Reservearmee einigermaßen im Zaum zu halten. Die Immigranten machen sich auf ihre Weise das Motto der Gesellschaft zu Eigen: Die Arbeitskraft geht dorthin, wo Arbeit ist - nicht umgekehrt. Das galt für die DDR-Flüchtlinge genauso wie für Armutsflüchtlinge aus dem Kongo.

Die neu- und gesamtdeutsche Konzeption, mit dieser Tatsache umzugehen, ist die dümmste aller möglichen Varianten. Einwanderung bleibt faktisch verboten, seitdem - auch unter dem Druck des rassistischen Mobs - das Asylrecht abgeschafft wurde. Diese Methode ist ähnlich "erfolgreich" wie der Versuch, Kriminalität oder den Konsum bestimmter psychotroper Substanzen verbieten zu wollen. Wie die Prohibition das Panscher-Milieu fördert, ja es erst hervorruft, fördern ein rassistisches Staatsbürgerschaftsrecht und eine dementsprechende Definition der Gesellschaft die Neonazi-Szene. "Rassismus" meint nicht nur eine biologistische Theorie, sondern auch eine kulturelle: Wer ein homogenes "Volkstum" will, wird an der multikulturellen Realität scheitern und suggeriert der braunen Szene, man habe es nur nicht konsequent genug versucht. Die Nazis werden sich nicht lange bitten lassen und entsprechende Forderungen auf ihre Weise artikulieren. Österreich und die Schweiz sind der Beweis: mit Arbeitslosigkeit oder mit mangelnder Perspektive hat Neonazismus nichts oder nur sehr wenig zu tun.

Aber: Wer kein "Volkstum" will, muss laut sagen, wie die Alternative auszusehen hätte. Wer die kulturelle "Identität" der "Ausländer" in ihrer neuen Heimat bewahren will, etwa mit Folklore, läuft nur in die Propaganda-Falle der Neonazis. Eine Sabrina Setlur bewirkt mehr gegen Rassismus als zehn Flugblätter, die mahnen, doch nett zu den lieben "ausländischen Mitbürgern" zu sein.

Diese Theorie ist in Deutschland trotz der Erfahrungen der letzten zehn Jahre jedoch nicht Konsens, sondern die exotische, gar extremistische Meinung einer politischen Minderheit. Wer behauptet, Rechtsextremismus habe, wenn er zum Problem werde, ausschließlich politische Ursachen, keine sozialen oder ökonomischen, wird milde belächelt - als behauptete jemand, Heroin sei nicht gesundheitsschädlich. Das stimmt zwar, aber man sollte es nicht sagen, weil es ohnehin keiner glaubt.