Stark macht heilig

Im bretonischen Guingamp steht ein klerikalfaschistischer Abbé vor Gericht, der für den Tod von vier jugendlichen Pfadfindern verantwortlich gemacht wird.

Am Morgen des 22. Juli 1998 herrscht Sturmwarnung auf dem Ärmelkanal. Meterhohe graue Wellen brechen sich an der Felsküste der nördlichen Bretagne. Die Segelschulen haben ihre Tätigkeit eingestellt: Das Auslaufen erscheint zu gefährlich. Dennoch fahren an diesem Tag drei Segelboote aufs offene Meer hinaus. Auf jedem der Schiffe, die für eine Höchstzahl von sechs Personen ausgelegt sind, befinden sich sieben bis acht Kinder und Jugendliche.

Sie nehmen Kurs auf die Küstenstadt Perros-Guirec, die sie spätestens um 15 Uhr erreichen wollen. Schaffen sie das nicht, dann sollen sie um diese Uhrzeit, egal, wo sie sich befinden, an Land gehen und den Leiter ihrer Pfadfindergruppe, den Abbé Cottard, auf seinem Handy anrufen. Er ist der Führer der Gruppe, die zu den ultra-rechten katholischen Pfadfindern Marine ƒducation Jeunesse (MEJ) gehören.

Um 13.30 Uhr kentert eines der Boote, der "L'Espadon" ("Schwertfisch"), an dem man später Materialermüdung und Risse feststellen wird. Die sieben Jugendlichen an Bord, zwischen 12 und 16 Jahre alt, klammern sich an das Boot. Trotz des Hochsommers ist das Überleben im kalten Wasser des Atlantik nur eine Frage der Zeit. Gegen 16.30 Uhr kann sich Damien nicht mehr halten und ertrinkt. Kurz darauf folgt Jean-Baptiste. Um 21.53 Uhr registriert das Rettungszentrum im bretonischen Corsen einen Anruf des Abbé Cottard. Zu diesem Zeitpunkt ist auch schon der dritte Junge ertrunken. Die anderen werden nach 22 Uhr von einem Schiff geborgen, das zufällig auf sie aufmerksam geworden ist. Einer der Geretteten stirbt bald darauf an Entkräftung. Auch einer der Retter, der 31jährige Guillaume Castanet, ertrinkt, als er bei dem Rettungsmanöver von einem Mast am Kopf getroffen wird.

Warum hat der Kirchenmann, der die Jugendgruppe beaufsichtigen sollte, das Rettungszentrum erst so spät alarmiert, während jede Stunde das Leben der Vermissten kosten konnte? Mit dieser und vielen anderen Fragen hat sich das Zivilgericht in Guingamp seit dem 19. Oktober zu beschäftigen. Hier ist der 52jährige Abbé, mit bürgerlichem Namen Jean-Yves Cottard, angeklagt, für den Tod von fünf Menschen verantwortlich zu sein. Die Staatsanwaltschaft hat eine fünfjährige Haftstrafe gefordert.

Der Abbé selbst hat eine einfache Erklärung für sein Verhalten: Ihm sei gar nicht aufgefallen, dass es schon so spät gewesen sei. Als er kurz vor 22 Uhr die Rettungsdienste alarmiert habe, sei er davon ausgegangen, dass es gegen 19 Uhr sei. Der Staatsanwalt fand einen einleuchtenderen Grund für das lange Zögern des Abbé: Der fundamentalistische Kirchenmann, Angehöriger der Bruderschaft St. Pius X., wollte seine Truppe, die Beobachter als "sektenähnlich funktionierend" beschreiben, vor Untersuchungen schützen, die die Strukturen der MEJ aufgedeckt hätten. Dies zu fürchten hatte der Abbé auch allen Grund: Hätten die Behörden von seinen Erziehungsmethoden erfahren, hätte er womöglich nicht so bald wieder ein Pfadfindercamp veranstalten dürfen. In drei simplen Grundsätzen läßt sich die pädagogische Doktrin des Abbé zusammenfassen.

Erstens: Um ein richtiger Mann zu werden, muss man Strapazen, Quälereien und Gefahren durchstehen - denn Gott hilft den Starken, die dadurch dazu befähigt werden, als "Chefs" die anderen Menschen auf den rechten Weg zu leiten. So ist es im Mitteilungsblatt der katholisch-fundamentalistischen AFSGC (Französische Vereinigung katholischer Pfadfinder), zu der die MEJ gehört, nachzulesen. Damit soll "diesen Jungen geholfen werden, vollendete Männer zu werden". Die "Erziehung in freier Natur" wird gepriesen, als Modell gilt Rudyard Kiplings "Dschungelbuch": Es herrscht das Gesetz des Dschungels, in dem nur der Stärkere zum Überleben befähigt ist.

Das zweite Prinzip lautet: Die anderen - die "da draußen", der laizistische Staat und die Republik, die "linken" Medien ohnehin - haben von vorne herein Unrecht, und man muss die Jugend so weit wie irgend möglich von ihrem schädlichen Einfluss abschirmen. Sicherheits- und Hygienebestimmungen, Jugendschutzgesetze und ähnlicher Schnickschnack, der von der Demokratie ausgeht, ist daher grundsätzlich zu unterlaufen. Und der dritte Grundsatz dekretiert, dass die eigenen Führer grundsätzlich Recht haben und ihre Anweisungen absolut zu respektieren sind.

An diesen Grundsatz fühlen sich offenbar sogar noch die Eltern der vier toten Jugendlichen gebunden. Wer die Verhandlungen in Guingamp besuchte, wunderte sich zunächst vor allem über die unverbrüchliche Treue, in der die Eltern der vier weiterhin zu dem fundamentalistischen Abbé stehen. In ihren Augen ist und bleibt er ein Heiliger, und es war der "Wunsch Gottes", ihre Kinder zu sich zu rufen. "Wir haben ein Kind zu beweinen, aber der Abbé hat ihrer vier zu beweinen", machte eine Mutter, die ihren zwölfjährigen Sohn verloren hat, den Kirchenmann vom Täter zum Lamm Gottes.

Nur Jocelyne Lasnet de Lanty, die Mutter eines der vier Opfer, hat sich nach dem "Drama von Perros-Guirec", wie die Presse den Fall nennt, von dem Gottesmann abgewandt. Sie trat in dem Prozess gegen den Abbé als Nebenklägerin auf. Vor der Prozesseröffnung wurde sie aber - vermutlich von Kreisen um den Abbé - unter Druck gesetzt. So war nur ihr Mann während des Verfahrens anwesend.

Der Prozess hat jedoch über die Rückschlüsse auf das Treiben der Fundamentalisten hinaus noch eine ganz überraschende politische Dimension, die der französischen Öffentlichkeit bis heute nicht aufgefallen zu sein scheint. Ausgerechnet Madame d'André, die Mutter eines der drei Überlebenden des "L'Espadon", die sich in ihren Sympathiebekundigungen für den Abbé besonders hervorgetan hatte, stellt sich als alte Bekannte heraus. 1998 hatte sie bei dem Prozess gegen Jean-Marie Le Pen den Chef des Front National (FN) entlastet, als dieser wegen seines gewaltsamen Übergriffs gegen die sozialistische Politikerin Annette Peulvast-Bergeal angeklagt war (Jungle World, 41/98). Le Pen hatte die Frau am Vorabend der Parlamentswahlen von 1997 in der Pariser Vorstadt Mantes-La-Jolie durch Schläge und Tritte verletzt.

Der heute 15jährigen Überlebende Beno"t d'André, der nach dem Unfall im Vorjahr den vernehmenden Polizisten den Tod zweier seiner Kameraden noch sehr dramatisch geschildert hatte, glänzte im Verfahren durch eine ganz andere Beschreibung des Geschehens. Darin kommt nicht nur der Abbé Cottard ausgesprochen gut weg, sondern die Stunden des drohenden Todes werden zur positiven Erfahrung, die von Beten und Hoffen auf Gott ausgefüllt gewesen sei.

Dieses Gemisch von rechtsextremer Ideologie, fundamentalistischem Katholizismus und "Pfadfindertum" dürfte dem 15jährigen kaum selbst eingefallen sein. Vielmehr verweist es auf die Bruderschaft, die sich nach dem gegen "Modernismus", Demokratie und Laizismus kämpfenden Papst Pius X. benannt hat. Diese folgte Ende der achtziger Jahre dem fundamentalistischen Bischof Marcel Lefèvre in seinem Abfall von der "modernistisch und marxistisch verkommenen" römischen Amtskirche und ist seitdem aktiver Bestandteil der extremen Rechten in Frankreich. Im Pariser Umland unterhält die Bruderschaft eine Privatschule, an der auch der Abbé Cottard unterrichtet. Auch die meisten Mitglieder seiner Pfadfindertruppe besuchten diese Schule.

Die Bruderschaft und ähnliche klerikale Strömungen, die in Fundamental-Opposition gegen die Republik verharren, existieren heute teils als Bündnisse innerhalb und teils außerhalb der katholischen Kirche. Da Staat und Kirche in Frankreich seit 1905 strikt getrennt sind, haben beide Institutionen keine Absprachen getroffen, die den Gebrauch der Bezeichnung "Pfadfinder" beschränken könnten. Die große Mehrheit der französischen Pfadfinder-Gruppen ist heute keineswegs rechtsextrem eingestellt und bekämpft solche Ideologien - so die sechs Mitgliedsorganisationen des Dachverbands FSF, zu denen eine muslimische und eine jüdische Vereinigung gehören. Andere Gruppierungen haben aber in dieser Hinsicht weniger klare Positionen. Von insgesamt rund 250 000 aktiven Pfadfindern wird geschätzt, dass zirka 60 000 im möglichen Einzugsbereich demokratisch zweifelhafter Ideologien stehen.

Der französische Staat versucht inzwischen, die Aktivitäten der verschiedenen Organisationen stärker zu kontrollieren. Ein Instrument dafür bieten vor allem die Hygiene-Gesetzgebung, die Sicherheitsvorschriften und auch die Schutzbestimmungen gegen Missbrauch und psychische Manipulation von Jugendlichen. Die verschärfte Aufsicht erlaubte es im Sommer dieses Jahres, acht Pfadfinderzentren wegen Nichteinhaltung minimaler Vorschriften zu schließen - sechs davon waren katholisch-fundamentalistisch ausgerichtet, eines wurde direkt vom Front National betrieben.

Nur zehn von insgesamt 80 Organisationen genießen eine offizielle Anerkennung durch die Jugendschutz-Behörden. Diese zehn Verbände profitieren nun von einer gewissen Lockerung der Kontrollvorschriften, die es ihnen erlaubt, unbehelligt Pfadfinderlager durchzuführen. Doch auch eine dieser zehn ist nunmehr ins Zwielicht geraten, die Vereinigung Guides et Scouts d'Europe, die zumindest teilweise unter rechtsextremem Einfluss stehen soll. Der Vater eines Jugendlichen, der Mitglied dieser Vereinigung war, hat Strafanzeige gestellt, nachdem ihm rassistische Schriften zugesandt worden waren.