Für einen Pokal voll Schokolade

Unbekannte Sportarten, Teil I: Kanu-Polo.

Wir befinden uns in der Schwimmhalle einer alten Kaserne in Berlin-Lichterfelde, Finckensteinallee. Auf der Tribüne stehen oder sitzen eine Handvoll Zuschauer. Ein paar Kinder rasen hin und her, eine Gruppe junger Männer in Neopren-Anzügen fachsimpelt über das Geschehen im Becken und eine Dame mittleren Alters ist vorwiegend mit ihren Fingernägeln beschäftigt.

Im Schwimmbecken vier Meter tiefer paddeln zehn Leute in ihren Kanus herum und versuchen, einen Ball in eines der beiden Tore am Beckenrand zu befördern. Was hier gespielt wird? Kanu-Polo - eine bisher fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindende Sportart. Sie wurde, wie so viele vor ihr, in England erfunden, in den zwanziger Jahren. Damals spielte man dieses Spiel noch mit Faltbooten auf einem Großfeld (einem See z.B. oder einem Kanal). Wegen des großen Materialaufwands konnte sich das Spiel allerdings hierzulande nicht durchsetzen. Später benutzte man die billigeren Wildwasserkanus, aber auch dieser Schritt brachte keinen Popularitätsschub in Deutschland.

Vor ungefähr zehn Jahren wurde von der Internationalen Kanu Vereinigung (ICF) ein komplett neues Regelwerk eingeführt. Neue Boote wurden gebaut, ein kleineres Spielfeld (40 mal 20 Meter) abgesteckt - mit dem Ziel, diese doch recht exotische Sportart dynamischer zu gestalten. Heute wird Kanu-Polo überall in Europa gespielt, und in den Commonwealth-Ländern erfreut es sich nach wie vor großer Beliebtheit.

Eben gerade ist mal wieder ein Tor gefallen. Nun gut, im Kanu-Polo ist das keine Seltenheit. Trotz der relativ kurzen Spielzeit von zwei mal zehn Minuten ist das Endergebnis oft zweistellig. Anstoß. Der Ball liegt in der Mitte des Schwimmbeckens, je ein Spieler pro Mannschaft rast so schnell es eben geht herbei und versucht, den Ball unter seine Kontrolle zu bringen. Entweder mit der Hand oder mit dem Paddel. Dabei kann es auch schon mal etwas härter zur Sache gehen. Da werden Gegner gekentert (im Fachjargon als "Schicken" bezeichnet), es wird gezerrt und gehalten (Foulspiel, aber das passiert immer wieder), oder ein Kanu rammt mit voller Fahrt ein anderes.

Um trotzdem für die nötige Sicherheit zu sorgen, gibt es auch in dieser Sportart Vorkehrungen zum Schutz der Spieler und Spielerinnen. So ist das Tragen eines Helmes mit Visier Pflicht; ebenso die Schwimmweste - weniger wegen des hohen Wellengangs und der damit verbundenen Kentergefahr, sondern als Schutz vor den Kanuspitzen. Die Kanus wurden auch stark modifiziert. Sie sind wesentlich leichter als herkömmliche Modelle und haben eine abgerundete, gepolsterte Schnauze. Diese Wettkampfboote, speziell für den Polo-Sport gebaut, kosten zwischen 1 000 und 1 500 Mark und halten ein bis zwei Jahre.

Nach dem Anstoßduell hat ein Spieler den Ball unter Kontrolle bringen können, wurde jedoch kurz darauf von einem gegnerischen gekentert. Die beiden Schiedsrichter an den Seitenlinien greifen nicht ein, denn das Kentern ist im Polo-Sport durchaus legitim - solange der Ballführende erwischt wird. Inzwischen hat sich die eine Mannschaft vor dem gegnerischen Tor postiert. Das sieht dann ungefähr wie beim Handball aus. Fünf Spieler werfen sich den Ball zu und versuchen, eine Lücke in der Abwehr des Gegners zu finden - was gar nicht so einfach ist. Schließlich gehört eine große Portion Geschicklichkeit dazu, den Ball sauber zu werfen, dabei das Kanu zu manövrieren und sich noch gegen Angriffe des Gegners zu wehren; zudem darf der ballführende Spieler den Ball nicht länger als fünf Sekunden in den Händen halten.

Der Torwart der verteidigenden Mannschaft ist tabu, d.h., er darf bei einem Angriff nicht angefahren oder geschoben werden. Da es keinen festen Torwart gibt, ist der- oder diejenige Torwart, der oder die unter dem Tor steht und dabei das Paddel hebt. Da auch die anderen (verteidigenden) Spieler im Falle eines Torwurfes ihr Paddel heben, ist es ziemlich schwer, den Ball ins Netz zu bugsieren.

Ziel ist es also, durch Schieben, Freisperren und Ablenken, einen Spieler in gute Wurfposition zu bringen. Tore werden nämlich, im Gegensatz zum sonstigen Spielverlauf, bei dem der Ball auch mit dem Paddel gespielt werden darf (wenn er dabei nicht an Geschwindigkeit zunimmt, so die genaue Regelauslegung) fast ausschließlich geworfen. Die Tore selber sind schwimmende Konstruktionen, die sich in einer Höhe von zwei Metern (über dem Wasser) befinden. Ihre Größe entspricht etwa der eines Basketballkorbes.

Das Spiel ist vorbei. Jetzt ist erst mal Stärkung angesagt ... In der Eingangshalle haben Vereinsangehörige oder deren Bekannte ein Kuchenbüffet aufgebaut. Die Spieler und Spielerinnen treffen sich zum Plausch, man kennt einander sehr gut, denn die Zahl der Aktiven ist überschaubar. Und wenn auch nicht alle schon seit ihrer Kindheit Kanu-Polo spielen, kennt man sich doch aus dem (Kanu-)Rennsport, aus dem sich ein nicht unerheblicher Teil der Kanu-Polospieler rekrutiert. Neuanfänger ohne Bootserfahrung gibt es kaum; die dürften es auch ziemlich schwer haben, ist doch das Beherrschen des Bootes eine der Grundvoraussetzungen für dieses Spiel. Dass man darüber hinaus noch eine ganze Menge Kraft benötigt, eine andere.

Beim Event in der Finckensteinalle handelt es sich um ein Freundschaftsturnier, ausgerichtet vom Verein Märkischer Wanderpaddler, einem von ungefähr zehn in Berlin beheimateten Kanu-Poloclubs. Solche Hallenturniere finden zwar regelmäßig in der Nachsaison statt, sind aber nur zweite Wahl. Während der Wettkampfzeit, ungefähr von April bis Oktober, wird der Sport hauptsächlich auf Seen oder Kanälen ausgeübt.

In den Schwimmbädern sind die Kanu-Polo-Spieler nicht sonderlich gern gesehen; viele Bäderbetreiber haben Angst um ihre Kacheln und vor eventuellen Einnahmeverluste. Wahrend der regulären Saison finden die Ligaspiele auch auf den Turnieren statt. Auch die Bundesliga-Meisterschaft wird fast ausschließlich dort ausgetragen. Da die Anzahl der Poloclubs in Deutschland klein ist, würde es sich auch gar nicht lohnen, für nur ein einziges, zwanzigminütiges Spiel von Berlin nach beispielsweise Hannover oder Dresden zu fahren. Dann doch lieber auf Wochenendturniere reisen. Man kann seinem Hobby frönen und trifft Freunde und Bekannte.

Nach der Pause hat sich die Zuschaueranzahl nicht wesentlich vergrößert, obwohl im Becken weiter ansehnlicher Sport geboten wird. Es spielt eine deutsch-englische Spielergemeinschaft gegen die Mannschaft des Turnierveranstalters. Die Spielergemeinschaft ist haushoch überlegen und wird dieses Turnier später auch gewinnen. Da aber das Fernsehen Kanu-Polo noch nicht als den großen Quotenbringer entdeckt hat, fallen die Prämien im Vergleich zu anderen Sportarten auch eher bescheiden aus: Die beiden Siegerteams, bei den Herren die oben erwähnte Spielergemeinschaft und bei den Damen der KC Limmer Hannover, erhalten je einen Wanderpokal und eine Millenniums-Tafel Schokolade.