Ende eines Auslaufmodells

Nach dem Tod des Leichtathletik-Präsidenten Primo Nebiolo steht der Verband vor dem Chaos. Der diktatorisch agierende IAAF-Vorsitzende hatte potenzielle Nachfolger immer geschickt klein gehalten - und nun ist keiner da, der weiß, wo's langgeht.

Primo Nebiolo starb, wie er zeitlebens gehandelt hatte: Überraschend. Und zurück blieb ein Chaos. Erst langsam wird deutlich, wie handlungsunfähig der Leichtathletik-Weltverband IAAF ohne seinen am 7. November dieses Jahres verstorbenen Präsidenten ist. Der 76jährige hatte in den fast 20 Jahren seiner autokratischen Herrschaft versucht, in der ehemaligen olympischen Kernsportart den Spektakel-Kapitalismus durchzusetzen. Dabei war er höchst umstritten.

Die Athleten z.B. erinnern sich ganz unterschiedlich an den Mann: Sara Simeoni, 1980 italienische Olympiasiegerin im Hochsprung, verdankt ihm anscheinend viel: "Er hat die Athleten das Träumen gelehrt. Er hat uns gelehrt, an uns selber zu glauben, denn kein Rekord war unbezwingbar, kein Wettbewerb nicht doch zu gewinnen." Livio Berutti allerdings, italienischer Olympiasieger über 200 Meter von 1960, sieht die Sache anders: "Eine Person ist heute gestorben, die die sportlichen Ideale, an die ich geglaubt habe, zertrampelt, korrumpiert und beschmutzt hat." Der Geschäftsführer des US-Leichtathletikverbandes, Craig Mashback, meint: Nebiolo war ein "großer Visionär, wenn nicht gar Revolutionär". "Er hat Leichtathletik vom Amateur- zum Profi-Level gebracht." Richtig umstritten war aber vor allem sein Führungsstil.

Macht und Geld sind die Konstituenten des Patriarchen. Um beides bemühte sich auch Nebiolo sehr. Er war nicht nur Präsident der IAAF, sondern sammelte auch andere Titel: Sowohl dem Weltverband für Hochschulsport stand er vor als auch der Vereinigung der olympischen Sommersportarten. Er fand, dass sein Amt mit dem eines Staatsmannes gleichzusetzen sei, und ließ vor Auslandsaufenthalten sondieren, welche Orden er erwarten konnte.

Mit seinem großen Konkurrenten in der Welt der Sportfunktionäre, Juan Antonio Samaranch, Ex-Minister des Faschisten Franco, verband den Kriegsfreiwilligen die gemeinsame Einstellung. Der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, der Nebiolo 1992 ins IOC-Exekutivkomitee berufen hatte, erklärte dann auch in seiner Trauerrede: "Wir weinen um einen großartigen Führer, und ich persönlich, um einen wundervollen Mitarbeiter und loyalen Freund." Inhaltliche Differenzen ließ der Pate der olympischen Bewegung nicht aufkommmen: "Mit Nebiolo verschwindet einer der großartigsten führenden Sportsmen dieses Jahrhunderts, der wusste wie man Sport auf den Platz befördert, der ihm in der heutigen Gesellschaft gehört."

Seinen Posten als Chef des italienischen Leichtathletikverbandes verlor Nebiolo allerdings nach der WM 1987 in Rom. Italienische Kampfrichter hatten die Weite des italienischen Weitspringers Giovanni Evangelista informell auf 8,37 Meter verbessert und ihm so unverdient zur Bronzemedaille verholfen. Der Betrug flog auf.

Trotz kleinerer Rückschläge hat Nebiolo eines in seiner Karriereplanung erreicht: Mit 210 Mitgliedsverbänden hat die IAAF weltweit mehr Mitglieder als die Fifa, das IOC oder gar die Vereinten Nationen. Mindestens genauso wichtig wie Ruhm und Macht war dem Patriarchen das Geld. In seiner Amtszeit stieg der Etat der IAAF von 150 000 Dollar auf 50 Millionen Dollar pro Jahr, aufgebracht vor allem von Fernsehanstalten und industriellen Sponsoren. Mit solchen Mitteln ausgestattet, zog der Verband von einem kleinen Quartier in London in eine luxuriöse Villa in Monaco. Bei der WM bezahlt man als einziger Weltverband Prämien an die Gewinner. Zusätzlich erhöhte Nebiolo die Produktvielfalt der Leichtathletik, indem er Wettbewerbe wie den Grand Prix oder die Golden League einführte.

In den letzten Jahren jedoch geriet der starke Mann der Leichtathletik in die Kritik. Er wurde Mitte August auf dem letzten IAAF-Kongress in Sevilla noch einmal wieder gewählt - per Akklamation, wie es sich für einen Potentaten gehört - aber außerhalb des Verbandes fanden sich gewichtige Kritiker. Denn neben der immer wieder stattfindenden Rufschädigung der Leichtathletik durch Doping schlägt sich die Sportart auch mit Problemen herum, die direkt auf Nebiolo zurückgehen.

Durch die Ausdehnung des Programms auf Grand Prix I, Grand Prix II, Golden League und die Verkürzung des WM-Rhythmus auf zwei Jahre verloren vor allem die Zuschauer, aber auch die Aktiven selbst, die Übersicht über die Wettbewerbe. Zumal die Austragungsrechte zu einem wichtigen Teil an Pay-TV-Sender vergeben wurden. Die machten zwar lukrative Angebote, der Sport fand aber so weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

Jos Hermens, Direktor des Amsterdamer Marathon meint dazu: "Es gab nur einen Weg und das war sein Weg." Anschauungsunterricht im System Nebiolo bot der Präsident noch drei Monate vor seinem Ableben. In einem letzten Handstreich hatte Nebiolo bei der Abschluss-Pressekonferenz des IAAF-Treffens in Sevilla noch schnell versucht, gleich die nächsten fünf Weltmeisterschaften auf einmal zu vergeben - verbunden natürlich mit den einträglichen Fernsehrechten. Er verkündete einfach, unabhängig vom tatsächlichen Entscheidungsstand, die WM-Orte bis 2009. Dementis folgten zwar, aber Nebiolo hatte so vor der Beratung der zuständigen Gremien schon einmal Fakten geschaffen. Mit seinem Tod könnte diese Art der Entscheidungsfindung der Vergangenheit angehören.

Denn nun steht der Generationswechsel an. Bevor die Leichtathletik jetzt endgültig den marktgerechten Millenniumssprung schafft, muss aber vorher noch das Chaos aufgeklärt werden, dass Nebiolo hinterließ. In seinem Machttrieb ließ der Mann keine anderen starken Präsidiumsmitglieder zu, alle Informationen bündelte er bei sich selbst. Zur Zeit besteht in der IAAF daher große Unsicherheit, was rechtliche Vertragsfragen sowie das Personal des Verbandes und dessen Arbeitsverträge betrifft. Und auch über die tatsächliche Finanzlage des Verbandes herrscht Unklarheit. Prof. Helmut Digel, das deutsche Präsidiumsmitglied, hält sich daher auch erst einmal zurück: "Keiner weiß es. Wir müssen erst mal Kassensturz machen."

Allerdings kursieren recht glaubwürdige Gerüchte, die Leichtathletik-Organisation sei pleite. Bereits im Sommer, noch zu Nebiolos Lebzeiten, hatte es ein wochenlanges peinliches Gerangel gegeben, um den ausgelobten Eine-Million-Dollar-Jackpot der Golden League zu füllen.

Vorerst wurde ein Interimskandidat als Nebiolos Nachfolger bestimmt. Der Senegalese Lamine Diack ist ehemaliger Erster Vizepräsident der IAAF und damit satzungsgemäßer Stellvertreter Nebiolos. Der 66jährige ist der erste Nicht-Europäer im Amt des IAAF-Präsidenten - aber ihm wird angesichts der starken europäischen Hausmacht im Verband keine Chance eingeräumt, die nächste reguläre Wahl im Jahr 2001 zu gewinnen. Abgesehen davon, dass Nebiolo zeitlebens verhindern konnte, dass sich ein potenzieller Nachfolger etabliert, gibt es auch noch einen ganz anderen Grund, den Urnengang zu verschieben: Der Verband hat einfach kein Geld, eine Wahlversammlung mit Delegierten aus 210 Ländern einzuberufen.