Berlins bombende Bettnässer

Der Anschlag auf das Materiallager eines Steinmetzes und die Drohungen gegen ihn machen deutlich, dass die deutsche Hauptstadt auch die Hauptstadt des deutschen Antisemitismus ist.

Es ist gerichtsbekannt: Wer den Deutschen Gruß zeigt und »Heil Hitler« schreit, muss nicht zwingend ein Nazi sein. Und wenn doch, war er gewiss ein Einzeltäter. Im Grunde ist aber nicht einmal klar, dass er selbst wirklich für die Tat verantwortlich ist.

Der Teufel war schuld, erklärte beispielsweise ein Angeklagter am vergangenen Freitag vor dem Berliner Landgericht. Der böse Luzifer sei heimtückisch in ihn gefahren und habe statt seiner die Straftat begangen. Ein geistig Verwirrter, beschied das Gericht, die Anerkennung der Schuldunfähigkeit folgte prompt. Und vor allem: eine Handlung ohne rechtsextremistischen Hintergrund. Aber den gibt es ja ohnehin selten - solange die Täter sich nicht selbst unzweifelhaft dazu bekennen.

1 086 solcher Delikte zählte die Bundesregierung von Jahresbeginn bis Ende September. Antisemitische Straftaten freilich zählen die Statistiker der Innenbehörde nicht dazu. Denn die werden extra aufgelistet - antisemitisch sein kann schließlich jeder, nicht nur die Rechtsextremisten. 433 Taten waren es in den ersten neun Monaten dieses Jahres - darunter 40 Sachbeschädigungen, 12 Angriffe auf Personen und 27 Schändungen jüdischer Friedhöfe.

Gewisse Opfer, ungewisse Täter ...

Die wohl aufsehenerregendste Aktion bisher ereignete sich Mitte Dezember des vergangenen Jahres mit dem Bombenanschlag auf das Grab des früheren Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, in Berlin. Seit diesem Anschlag, der die Grabplatte fast vollständig zerstörte und dem bereits im September eine Attacke auf das Grab vorausgegangen war, ist die Botschaft eindeutig: Juden, mit denen die Fanatiker unter den Deutschen zu Lebzeiten nicht machen dürfen, was ihnen so an Gewalt- und Allmachtsfantasien durch den Kopf geistert, sind dann eben später - nach dem Tode - dran.

Genau das wollten offenbar auch die bisher unbekannten Täter vermitteln, die in der Nacht zum 3. Oktober - dem Tag der deutschen Einheit - auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee 103 Grabsteine beschädigten oder zerstörten. In derselben Nacht wurden in anderen Bezirken der Hauptstadt zwei Denkmäler mit SS-Runen und Hakenkreuzen beschmiert.

Und wer die Juden unterstützt, ist ebenfalls dran. Das musste zumindest ein Steinmetz erfahren, der der Verwaltung des jüdischen Friedhofs in Weißensee unentgeltlich bei der Reparatur der beschädigten Grabsteine geholfen hatte. Wie vergangene Woche bekannt wurde, drangen Unbekannte bereits Mitte November in das Lager des Steinmetzes ein und beschädigten dort rund 150 Grabsteine. Es entstand ein Sachschaden von mehr als 80 000 Mark, der durch keine Versicherung gedeckt ist.

Zuvor hatte der Mann bereits Drohanrufe erhalten. Wenn er den Friedhof weiterhin unterstütze, werde er getötet, warnten ihn die anonymen Anrufer. Unklar ist, ob dieses systematische Vorgehen nach dem dreifachen Anschlag auf ein Mahnmal in der zentral gelegenen Großen Hamburger Straße (1997/98) und nach dem zweimaligen Anschlag auf das Grab Galinskis noch einmal eine neue Dimension und Qualität antisemitischer Angriffe darstellt. Sprich: Ob eine gut ausgerüstete Gruppe oder Organisation der extremen Rechten dahinter steht.

Auf Personen und Strukturen der extremen Rechten in Berlin, im Umland der Hauptstadt sowie im Bundesgebiet, die offen antisemitisch agieren, hatte die Berliner Antifa-Zeitschrift Antifaschistisches Info-Blatt bereits im April hingewiesen: Namentlich genannt wurden zwei Männer und eine Frau, »die für ihre antisemitischen Anschläge und Propaganda-Aktionen« bekannt seien und die seit Jahren unbehelligt von Berlin aus agieren könnten. Erwähnt wird auch eine Berliner Sektion des Blood & Honour-Netzwerkes, einer internationalen Nazi-Skin-Dachorganisation.

Als rechtsextreme Publikation mit dem derzeit rüdesten Antisemitismus wird das Zentralorgan um den Neonazi-Kader Christian Worch und sein Norddeutsches Aktionsbündnis genannt. Ende des vergangenen Jahres kam in diesem Spachrohr der so genannten Freien Kameradschaften, bei denen es sich meist um partei- und organisationsunabhängige Nazi-Kleingruppen handelt, auch der US-Amerikaner William Pierce zu Wort. Pierce ist Herausgeber des Terror-Buchs »The Turner Diaries« und steht den antisemitischen Aryan Nations nahe.

Für die Tat verantwortlich sein könnte aber auch eine Gruppe von Personen, die mit den mehr oder weniger bekannten Strukturen der extremen Rechten nichts oder zumindest nur wenig zu tun, sich aber dennoch zur Planung und Durchführung von antisemitischen Attacken zusammengefunden haben.

... gewisse Potenziale ...

Aber all das interessiert die Berliner Behörden nur bedingt: Nach ihrer Meinung müssen die Anschläge noch nicht einmal etwas mit Antisemitismus zu tun haben. Solche Vermutungen sind angeblich bloß hysterisch: »Gerade bei Anschlägen auf jüdische Einrichtungen neigt man stark dazu, von einer politischen Motivation der Täter auszugehen«, weiß eine Sprecherin des Berliner Polizeipräsidiums. So lange »wie die Täter nicht feststehen und uns keine Selbstbezichtigung vorliegt« sei keineswegs klar, ob so eine Tat einen antisemitischen Hintergrund habe.

Vielleicht war den Tätern ja auch einfach nur langweilig oder sie mussten irgendwie ihren Frust abbauen - »Fälle von Vandalismus erleben wir doch Tag für Tag, die sind doch nichts Besonderes mehr«, findet die Polizeisprecherin. Auch die Ermittlungen wegen des Anschlages auf das Galinski-Grab wurden Mitte des Jahres eingestellt, weil es keinen Verdächtigen gab.

Dennoch ermittelt im Fall der Friedhofsschändung in Berlin-Weißensee der Staatsschutz des Landeskriminalamtes, zuständig für die Angelegenheit ist das Referat Fremdenfeindliche und rechts motivierte Straftaten. Aber warum, wissen die ermittelnden Beamten auch nicht so genau und nehmen die Friedhofsschändung nach eigenen Angaben nicht ganz so wichtig. Zunächst müsse ja geklärt werden, ob es überhaupt Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Taten gibt - zwischen der Friedhofsschändung, den Drohanrufen gegen den Steinmetz und schließlich auch der Sachbeschädigung in dessen Lager.

Bisher heißt die Ermittlungslinie der Behörden dazu: »Erkenntnisse über eine politische Motivation dieser Straftaten liegen nicht vor« - nicht dem Staatsschutz, nicht der ermittelnden Staatsanwaltschaft am Berliner Landgericht und nicht dem Landesamt für Verfassungsschutz. Obwohl der Verfassungsschutz-Sprecher Eberhard Kruschke wenigstens weiß, dass »es in Berlin natürlich ein gewisses rechtsextremistisches und ebenso auch ein antisemitisches Potenzial gibt«. Kruschkes Amt ist aber auch fein raus: Die Ermittlung konkreter Täter gehört eben nicht zu seinen Aufgaben.

Der Journalist Henryk M. Broder zog in der Wochenendausgabe des Tagesspiegel aus dem Verhalten der Berliner Polizei seine persönlichen Konsequenzen: In einem Offenen Brief an den Berliner Polizeipräsidenten Hagen Saberschinsky zählt er noch einmal die antisemitischen Vorfälle der vergangenen Monate in Berlin auf und verweist auf die Reaktion der Polizei: »In all diesen Fällen 'vermutet' die Polizei einen rechtsradikalen Hintergrund, ist sich aber nicht ganz sicher. Es könnten auch Diabetiker gewesen sein, die wegen Zuckerentzugs Amok gelaufen sind oder jugendliche Bettnässer, die sich wundgelegen haben und deshalb ausrasten.« Seine Konsequenz: Künftig werden Verwarnungen wegen falschen Parkens oder anderer Bagatelldelikte von ihm nicht mehr bezahlt.

Was die Behörden nicht so richtig eingestehen wollen - wie geschickt oder ungeschickt sie sich auch immer verhalten mögen - für den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Andreas Nachama, ist es ein klarer Fall: »Ich betrachte die aktuelle Entwicklung mit großer Sorge, insbesondere die Zunahme antisemitischer und rechtsextremer Straftaten.«

Dabei ist dies durchaus mit dem politischen Kurs und dem dazu passenden Begleitgespräch der Berliner Republik vereinbar: Nachdem die bürgerlich aufgeklärte und progressive 68er-Generation die Geschicke des neuen Deutschlands bestimmt, darf man als Nachkriegsdeutscher endlich auch wieder die Juden offen kritisieren - wie es seit rund 150 Jahren zum guten deutschen Ton gehört, und nur zwischenzeitlich als unschicklich galt: Weil die ehemaligen Zwangsarbeiter unter ihnen angeblich die deutsche Industrie erpressen und ausnehmen wollen, weil sie Abfälliges über die gesellschaftliche Situation in Deutschland sagten wie Galinski-Nachfolger Ignatz Bubis oder weil ihren im Holocaust ermordeten Verwandten inmitten des repräsentativen Regierungsviertels der Berliner Republik ein Mahnmal gesetzt werden soll.

... und der Schutz davor

Jüdische Einrichtungen vertrauen in solchen Zeiten verständlicherweise lieber auf selbst organisierten Schutz. Die Jüdische Gemeinde in Berlin unterzeichnete Ende November eine neue Vereinbarung zur Bewachung ihrer Einrichtungen durch eine private israelische Sicherheitsfirma - und zwar umfassender als bisher. Besser ist es. Denn, so erklärte der Chef des Berliner Staatsschutzes, Peter-Michael Haerberer, im Interview mit dem Tagesspiegel, »den durchschnittlichen Berliner Wachschützer können Sie da nur schwer verwenden«. Gebraucht werde »hoch qualifiziertes, gut trainiertes Personal mit Kampferfahrung«.

Rund 20 israelische Sicherheitsleute sind daher seit Mitte der neunziger Jahre für die Gemeinde im Einsatz, eine Finanzierungszusage der Berliner Senatsinnenverwaltung macht nun eine Ausweitung dieses Schutzes möglich. Schließlich, betont der Gemeindevorsitzende Andreas Nachama im Gespräch mit Jungle World, »ist die Jüdische Gemeinde nicht wie der Fußballverein Hertha BSC. Wir nehmen ja nicht billigend in Kauf, dass sich Randalierer unter unser Publikum mischen.« Die Bedrohung komme »ganz klar und allein von außen«.

Die Berliner Polizei zeigt sich jedoch alles andere als motiviert, den Schutz jüdischer Einrichtungen in der Hauptstadt zu gewährleisten. »Objektschutz ist doch keine richtige Polizeiarbeit«, empört sich ein Beamter gegenüber Jungle World über seinen ungeliebten Job. Und ein martialisch mit Maschinenpistole Wache schiebender Ordnungshüter nennt seine Tätigkeit schlicht »sinnlos« - mit einer klitzekleinen Ausnahme: »Wenigstens haben die Bürger in den Nachbarhäusern was davon: Seitdem wir hier rund um die Uhr postiert sind, gibt es hier nämlich überhaupt keine Einbrüche mehr in der näheren Umgebung.«

Während die Polizei sich über die Entlastung bei ihrer unliebsamen Aufgabe freuen dürfte, sind die Hauptstadt-Politiker nicht ganz so begeistert. In einer Art ganz großer Koalition gaben sich die innenpolitischen Sprecher von CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der PDS - Roland Gewalt, Hans-Georg Lorenz, Wolfgang Wieland und Marion Selig - als Gegner dieser Lösung zu erkennen: Die Polizei solle gefälligst diese Aufgabe übernehmen, auch wenn die Beamten dies eben gar nicht so gerne tun wollen.

Auch innerhalb der 21 Mitglieder zählenden Repräsentanten-Versammlung der Gemeinde wird von einem Vertreter ähnliche Kritik geäußert: In der Berliner Zeitung meldete sich der Repräsentant Albert Meyer zu Wort. Seine Sorge galt aber weniger der Verletzung der Berliner Souveränität als den israelischen Wachschützern, weil diese »anders als Einsatzkräfte bei der israelischen Botschaft oder dem Generalkonsulat keinerlei Immunität« genießen. Wenn der Berliner Senat den offensichtlich notwendigen Schutz nicht gewährleisten könne, so sei dies ein »Armutszeugnis«.

Auch Nachama bezeichnet die Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen gegenüber Jungle World »als bedauerlich, aber notwendig«. Für die Zukunft ist er jedenfalls »sehr optimistisch»: »Wie ich das einschätze, werden alle erdenklichen Maßnahmen getroffen, um solche Anschläge zu verhindern.« Noch in diesem Jahr soll beispielsweise über ein weiteres Sicherheitsabkommen mit der Berliner Innenverwaltung verhandelt werden, das dann auch den Schutz jüdischer Friedhöfe regelt.

Das Sicherheitsempfinden der Gemeindemitglieder wird damit zwar gestärkt. An den Ursachen für antisemitische und rechtsextremistische Taten ändert sich freilich nichts. Und auch nicht an den Aufklärungsquoten bei antisemitischen Straftaten: Bundesweit gelten in diesem Jahr acht Prozent aller Fälle als geklärt, für Berlin muss man von diesen acht Prozent noch einmal 100 Prozent abziehen.

Um die 80 000 Mark Sachschaden, die dem Steinmetz am Weißenseer Friedhof entstanden sind, oder wenigstens einen Teil davon ausgleichen zu können, ist mittlerweile ein Spendenkonto eingerichtet worden: Deutsche Bank Heppenheim, Konto-Nr.: 034059-627, BLZ: 50970004, Stichwort: Steinmetz