Antisemitismus in der Berliner Republik

Solidarität für Steinmetze

Gäbe es militante Antisemiten nicht, die geläuterten Deutschen würden sie erfinden. Die Verwüstungen jüdischer Friedhöfe sind den Deutschen willkommener Anlass, um sich von der Nazi-Vergangenheit und ihren Wiedergängern abzugrenzen und zugleich Normalität unter Beweis zu stellen.

Ganz materiell und wenig auf Öffentlichkeit gerichtet hingegen war die Hilfe einiger Berliner Steinmetze nach der Verwüstung des jüdischen Friedhofs in Berlin-Weißensee am deutschen Einheitsfeiertag. Nach dem Anschlag auf einen von ihnen wird der Name des Geschädigten nicht nur verschwiegen, um Nachahmungen zu verhindern, sondern um sein Geschäft nicht endgültig zu ruinieren. Die wirtschaftliche Kalkulation des Mittelständlers ist hier ein verlässlicher Indikator für die gesellschaftliche Wirklichkeit. Dass er namenlos bleiben muss, sagt genauso viel über sie aus wie der Anschlag selbst, der Warnung vor der Unterstützung von Juden sein sollte.

»Wer immer sich durch sein Handeln für die Grundwerte der Demokratie einsetzt, muss es in der Gewissheit tun können, selbst auch Solidarität durch die Gesellschaft erfahren zu können«, heißt es nun in einer Erklärung der Amadeu-Antonio-Stiftung, mit der zu Spenden für den Steinmetz aufgerufen wird, der auch hier anonym bleibt. Anstatt dies als Indiz zu begreifen, macht es sich die Stiftung zur Aufgabe, Akte der Solidarität zivilgesellschaftlich zu vereinnahmen. So wird der Name eines der ersten Opfer des wiedervereinigten Rassismus zur Ehrenrettung jener Gesellschaft instrumentalisiert, die seinen Tod zu verantworten hat.

Die Steinmetze haben sich jedoch nicht für die »Grundwerte der Demokratie« eingesetzt, sondern zerstörte Grabsteine repariert. Sie verdienen gerade deshalb Solidarität, weil damit kein Medienspektakel veranstaltet wurde. In der Logik der Stiftung aber heiligt nur der höhere Zweck das Mittel: Der Kampf gegen den Antisemitismus darf in Deutschland nur im nationalen Auftrag stattfinden.

Der demokratische Pragmatismus will die gesellschaftlichen Ursachen für das Übel gar nicht erst zur Kenntnis nehmen. »Rechtsextrem motivierte Straftaten gehören besonders in den neuen Bundesländern inzwischen zum Alltag«, stellt die Stiftung fest. Ursache sei »eine weit verbreitete Jugendkultur, die sich antihumaner, antisemitischer, rassistischer Bilder und Verhaltensweisen bedient« und »von vielen Erwachsenen geduldet oder sogar befürwortet« würde.

Diese Weltsicht entstammt dem Fundus der Totalitarismus-Theorie: Die Ost-Nazis sind Kinder der autoritären DDR-Erziehung, ihre Eltern sind noch nicht in der Demokratie angekommen - ein wunderbarer Freispruch für die Berliner Republik. Der Pragmatismus wird zur zivilgesellschaftlichen Fassade, die um jeden Preis aufrechterhalten werden muss, weswegen es auch um die »Grundwerte der Demokratie« und nicht um die Bekämpfung des Antisemitismus geht.

Als Instanz zur Unterscheidung von gesellschaftsfähigem Ressentiment und demokratiebedrohendem Vorurteil verändern sich jene »Grundwerte« fortwährend - und je antitotalitaristischer sie werden, desto weniger hat der Pragmatismus tatsächlich Praktisches anzubieten. Vor lauter Solidarität mit den Opfern wird die Denunziation der Täter und ihrer Herkunft »vergessen«, übrig bleibt lichterkettenselige Betroffenheit.

Der antitotalitaristische Konsens ist zugleich der Rahmen für das gesellschaftsfähige Ressentiment, das, weil es die Konkretion notwendig verlangt, ständig selbst jene Gewalt reproduziert, deren antisemitische Zuspitzung hierzulande alles andere als Zufall ist. So gilt heute, dass, wer von der Berliner Republik und ihren Walsers, Lafontaines und Holzmännern nicht reden will, auch vom Antisemitismus schweigen soll.