Vergiss die Pomos!

Abschied vom postmodernen Milieu: Pünktlich zum Parteitag ortet die SPD die Neue Mitte neu - und findet sie im Herzen des deutschen Korporatismus, bei der leistungsorientierten Arbeitnehmerschaft.

Der Kampf um die Neue Mitte geht noch einmal von vorne los. In den vierzehn Monaten seit Amtsantritt der Schröder-Regierung war der Begriff von Rechts und Links bespöttelt worden, vor allem deshalb, weil der Neuen Mitte so recht keine soziale Kontur abzugewinnen war. Dafür aber eine ideologische. Im Blick auf die entschlossene Anfeuerung, die Rot-Grün aus den Reihen der Kopfarbeiter für die Beteiligung am Kosovo-Krieg erhielt, hatte der Kultur-Kritiker Georg Seeßlen in der Mai-Ausgabe von konkret treffend festgestellt, es handele sich bei der Neuen Mitte um eine »mythische Konstruktion«, die in einer moralischen Erzählung einstige Widersprüche verbinde: »die Impulse des Neoliberalismus« mit denen des »radikalen Moralismus«. Gesellschaftlich getragen werde diese Verschmelzung der Parolen »Genieße deine Macht« und »Rettet die Wale« von einem Pakt zwischen »dem moralischen und wirtschaftlichen Flügel des neuen Kleinbürgertums«.

Nach dem Kosovo-Krieg kam das als »Zukunftsprogramm« etikettierte 30-Milliarden-Sparprogramm aus Hans Eichels Finanzministerium, das der SPD eine Reihe von Niederlagen bei Landtags- und Kommunalwahlen einbrachte: Die Schichten, die Rot-Grün in die Regierung gewählt hatten, fühlten sich geprellt - nicht, weil sie materielle Einbußen hinzunehmen hatten, sondern weil gleichzeitig die Oberschicht von solchen Zumutungen verschont bleiben sollte. In der SPD machte sich Unzufriedenheit breit: Verteidigungsminister Rudolf Scharping ließ durchblicken, er fühle sich im Stande, gegebenenfalls den Kanzler-Job zu machen, die Linken in der Partei verfassten Thesen-Papiere über »Gerechtigkeitslücken«

in der Politik ihrer Vormänner; die Funktionäre klagten seit der Veröffentlichung des Schröder-Blair-Papiers zur Europa-Wahl, sie erführen immer erst aus der Zeitung, was die Partei vorhabe.

Angesichts dieser zerrütteten Kollektivpsyche wurde noch vor wenigen Wochen von allen Kommentatoren prognostiziert, der Berliner Parteitag der SPD werde das Desaster vollenden - eine wenig gewagte Vorhersage, gilt doch hierzulande »Geschlossenheit« und möglichst wenig Opposition als Ausweis für die Qualität solcher Veranstaltungen. Es kam aber anders: Im Zuge eines typischen »Stimmungsumschwungs« gelang der Führung die Herstellung einer ordentlichen Einheitspartei, worauf die Berichterstatter, u.a. die der Frankfurter Rundschau, prophezeiten, im Hotel Estrel, dem Ort des Parteitags, würden die Sozialdemokraten Gerhard Schröder erstmals »unseren Kanzler« nennen: »Die Kulissen sind vorbereitet und die SPD soll davor neu aufgestellt werden. (...) Die Basis sehnt sich nach dem Gefühl, auf Seiten des Guten zu leben und darauf stolz sein zu können.«

Das Grauen dieser Vision liegt in ihrer kurzen Vorgeschichte, und die lässt sich bündig an den Begriffen Holzmann, Ochsentour und Agis festmachen - der Arbeitsgruppe Interdisziplinäre Sozialstrukturforschung am Fachbereich Geschichte, Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Hannover. Einer der führenden Köpfe hier ist der mit dem Kanzler befreundete Professor Oskar Negt. Zum Wahlkampf 1998 hatte Negt ein Buch geschrieben, in dem nachzulesen war, weshalb Gerhard Schröder ein durchaus geeigneter Regierungschef sei. Und Agis hat nun, angeleitet von Professor Michael Vester, zwei Dinge herausgefunden. Erstens: Die Neue Mitte gibt es wirklich. Zweitens: Die SPD hat bisher zu Gunsten der falschen Leute regiert.

Ende November trug Vester in Berlin vor einem sozialdemokratischen Publikum die bisherigen Forschungsergebnisse der Agis vor. Der Begriff der Neuen Mitte sei zwar eher zufällig als »Werbekonzept des Wahlkampfes« entstanden, habe aber trotzdem »auf tiefgreifende Veränderungen der sozialen Klassenstrukturen und Milieus« reagiert. Schröders Symbolik sei von Beginn an fast ausschließlich auf das »postmoderne Milieu« (Pomo) zugeschnitten gewesen: »Zu ihm gehören die neuen Gewinner der globalen Modernisierung in avantgardistischen Kultur- und Medienberufen und Unternehmen der neuen Technologien und symbolischen Dienstleistungen. Sie verstehen sich als kommunikative Avantgarde und wollen ihr Bedürfnis nach edlem Konsum, Erlebnis und Erfolg ohne einschränkende Verpflichtung« - etwa zum Steuern-Zahlen - »verwirklichen. Der Kanzler muss geglaubt haben, sich hier mit einer wirklichen, von den anderen Milieus anerkannten Trendsettergruppe verbunden zu haben. Hier hat er geirrt.«

Das war fatal. Zum einen repräsentieren die Pomos lediglich sieben Prozent der Bevölkerung, zum anderen sind sie weniger beliebt, als Schröder geglaubt hat: »Gerade die Ablehnung sozialer Verpflichtungen«, so Vester, »provoziert nicht nur die Milieus der Arbeitnehmer, sondern auch einen großen Teil des gehobenen konservativen Milieus wie auch des gehobenen Bildungsmilieus.«

Die Suche nach der Neuen Mitte müsse hingegen auf das leistungsorientierte Arbeitnehmermilieu orientiert werden, das sich im modernisierten Sozialstaat unter Willy Brandt und Helmut Schmidt herausgebildet hat und etwa 25 Prozent der Bevölkerung repräsentiert. Diese »facharbeiterische Linie« sei weder einseitig der alten »materialistischen« Verteilungsmentalität noch der neuen »postmaterialistischen« Individualisierung verhaftet; sie vertrete vielmehr eine »Synthese« dieser Mentalitäten: »den Ausgleich zwischen Oben und Unten in der Gesellschaft und (die) gleichzeitige Ermunterung der Eigenverantwortung. Sie wollen, arbeitend und Steuern zahlend, etwas leisten, verlangen aber auch Gegenleistungen. Gegen Abstriche sind sie nicht - aber nur, wenn sie gerecht begründet sind.« Von der häufig unterstellten Modernisierungsfeindlichkeit, »Hängematten-Mentalität« oder »Sozialneid« sei hier keine Spur zu finden, dafür aber: »Sinn für soziale Gerechtigkeit«.

Dieses Facharbeitermilieu hat potenzielle und einflussreiche Bundesgenossen innerhalb der »Bildungseliten« und der »Eliten der öffentlichen Dienstleistungen«, die sich ebenfalls durch die »Hegemoniepolitik« der Pomos »herausgefordert und entmotiviert« fühlen. Die Bündnispartner siedeln im »oberen Viertel des sozialen Raums«, wo ein »hohes Ethos der Leistung, der Eigenverantwortung und der Chancengleichheit und eine realistische Reformbereitschaft« herrschen; Eigenschaften, die sich gegen »konservative Beharrung« ebenso verwahren wie gegen »zu postmodernen Avantgardismus«. Die empirisch unterfütterte Agis-Analyse zeigt: Deutschlands arbeitende Menschen sind besser als ihr Ruf, stellen ihre Potenziale der Politik aber nur zur Verfügung, wenn man ihnen, so die Zeit, »keinen Zigarrenqualm ins Gesicht bläst«.

Schröder hat das anscheinend jetzt verstanden und seiner öffentlichen Selbstinszenierung ganz schnell neue Inhalte, Formen und Adressaten verpasst. Zigarren werden, wie er der Woche anvertraute, nur noch »im Stillen« genossen, seine Zielgruppe sind jetzt »anständige Staatsbürger. Wer sich als Neue Mitte bezeichnet und meint, das sei ein Privileg für Steuerflucht, der kann mir gestohlen bleiben.« Seine Ochsentour durch eine Vielzahl regionaler Parteikonferenzen diente weniger der Verbreitung politischer Programmatik als der des berüchtigten sozialdemokratischen Stallgeruchs: Demonstrativ nahm er jene Mühseligkeiten auf sich, die den Aufsteiger als Parteisoldaten kenntlich machen.

Die Holzmann-Rettung, obwohl keineswegs gesichert, war die endgültige Abkehr von den Pomos. Ob intuitiv oder angeleitet von den Erkenntnissen seines Hannoveraner Think-Tanks, hat Schröder dessen Vorschläge zur Neujustierung der Neuen Mitte punktgenau umzusetzen begonnen. Wer sich die Frage stellt, ob die Holzmann-Aktion volkswirtschaftlich wertvoll oder eher destruktiv war, ist der Inszenierung schon auf den Leim gegangen. Schröders Heldenpart war nur möglich, weil sich die in Frankfurt Beteiligten kollektiv über etablierte Rechtsgrundsätze, etwa des Tarifwesens, hinwegsetzten.

Des Kanzlers Rolle als Patron der leistungswilligen und zum Lohnverzicht bereiten Facharbeiterschaft korrespondierte aufs Feinste mit der »erbitterten Mahnwache« (Günter Gaus) der Holzmann-Beschäftigten. Als Form des Arbeiter-Protestes zunehmend beliebt, sind Mahnwachen Ausdruck eines korporatistischen Bewusstseins, das die Oberen an ihre Pflichten innerhalb der Schicksalsgemeinschaft erinnern will - Leistung gegen Leistung. Einer Meldung der Bild-Zeitung zufolge wurde nach Bekanntgabe des Sanierungsplans aus den Reihen der Mahnwachenteilnehmer neben den »Gerhard-Gerhard»-Rufen auch das Lied der Deutschen abgesondert.

Ein Bild voller Sinn: Machen sich Schröder und die SPD die sozialwissenschaftliche Rationalisierung des Konzepts der Neuen Mitte zu Eigen, und dafür spricht einiges, dann wird die Deutschland AG noch schlagkräftiger. Der autoritäre Mythos des werktätigen Anstands ist nicht neu. Aber erfahrungsgemäß noch unappetitlicher als der der postmodernen Aufsteiger.