Der Mann ohne Vergangenheit

Joaquín Lavín, Präsidentschaftskandidat der rechten »Alianza por Chile«, at im ersten Wahlgang für Überraschung gesorgt. Am 16. Januar kommt es zur Stichwahl.

Für Joaquín Lavín ist sein Mentor Augusto Pinochet ein Relikt der Vergangenheit. Man müsse in die Zukunft blicken statt in der Vergangenheit zu verharren, suchte der 44jährige Präsidentschaftskandidat der als faschistoid verschrieenen Unión Democrática Independiente (UDI) Distanz zur Pinochet-Ära herzustellen. Die Menschenrechtsverletzungen des Militärregimes seien »eine offene Wunde«, die Angehörigen der Verschwundenen hätten ein Recht zu erfahren, »wo die Opfer begraben oder zumindest unter welchen Umständen sie ums Leben gekommen sind«.

Ungewohnte Töne für einen Mann, der dem Opus Dei angehören soll und der vor der Verhaftung Pinochets in London noch darauf bestanden hatte, dass es »nicht nur illoyal, sondern auch ein politischer Fehler« sei, sich vom greisen Ex-Diktator loszusagen.

Die 180-Grad-Wende nahmen seine Anhänger aus dem rechten, Pinochet nahen UDI-Lager zumindest nach außen ohne großes Murren hin. Und der Erfolg an den Urnen gibt dem Chicago-Boy Lavín vorerst Recht. Mit 47,52 Prozent der Stimmen sorgte Lavín für einen Erdrutsch in der politischen Landschaft Chiles. Einen Zuwachs von knapp 15 Prozent gegenüber den letzten Parlamentswahlen vom Dezember 1997 hat er der vereinigten Rechten aus Renovación Nacional und UDI beschert - ein harter Schlag für das Regierungsbündnis, die Concertación, des noch amtierenden Präsidenten Eduardo Frei.

Lavíns nach allen Regeln des Marketing und überaus effektiv geführter Wahlkampf zielte auf die so genannte politische Mitte. Beim christdemokratischen Wählerklientel von Präsident Frei wollte er wildern, und das ist ihm auch gelungen. Die Christdemokraten (PDC) taten sich von vornherein schwer mit der Nominierung vom Ricardo Lagos als Präsidentschaftskandidat der Concertación, und viele haben den Wahlergebnissen zufolge dem 61jährigen die Gefolgschaft verweigert.

In den Augen eines großen Teils der Christdemokraten ist der bekennende Sozialdemokrat Lagos, Chef der Partei für die Demokratie (PDD), nicht der richtige Mann für das oberste Staatsamt. Hinter ihm verberge sich das Schreckgespenst von Chaos und Anarchie, das mit dem Namen Allende verbunden ist, so der konservative Flügel der Christdemokraten unisono mit den Rechten.

Dabei hat Lagos sich sichtlich um die Wähler der Christdemokraten bemüht und sich zu makroökonomischer Stabilität und Budgetdisziplin bekannt, ohne die angestrebte soziale Gerechtigkeit und Umverteilung innerhalb einer polarisierten Gesellschaft außen vor zu lassen. Als »dritter Präsident der Concertación« und nicht als »zweiter sozialistischer Präsident Chiles« wolle er antreten, so Lagos im Wahlkampf. Er orientiert sich am Modell eines Sozialstaats nach europäischen Vorbild mit einer Arbeitslosenversicherung und einem funktionierenden öffentlichen Gesundheitssystem - Punkte, die im Wahlkampf wenig transparent gemacht wurden.

Gedankt haben die Wähler ihm den Balanceakt zwischen neoliberalem Wirtschaftsmodell und sozialem Umbau jedoch nicht. Mit 47,96 Prozent der Stimmen lag er nur ein halbes Prozent vor seinem Widersacher Lavín, der den cambio, den Wechsel, propagiert. Geschickt setzte der jugendlich wirkende Lavín sich in Szene, nahm verbal auch die Nöte der Armen ernst und setzte auf platten Populismus.

Vor allem bei den Jugendlichen stießen Lavín, aber auch Lagos auf Skepsis. Sie bilden das Gros der 800 000 Wähler, die trotz Wahlpflicht den Urnen fernblieben. Über zehn Prozent der Wahlberechtigten verweigerten den Kandidaten die Legitimation.

Zum Zünglein an der Waage beim zweiten Wahlgang könnte Gladys Marín werden. Die Kandidatin der Kommunistischen Partei kam beim ersten Wahlgang auf 3,19 Prozent der Stimmen und könnte ihre Wähler auffordern, für den ehemaligen Sozialisten Lagos statt für den sich als modernen Rechten verkaufenden Lavín zu stimmen.

Im Focus der Bemühungen von Soledad Alvear, der neuen christdemokratischen Wahlkampfmanagerin des Sozialdemokraten Lagos, werden hingegen die Christdemokraten und die Mobilisierung der Nichtwähler stehen. Die Ex-Justizministerin und Frau des christdemokratischen Parteichefs Gutenberg Martínez soll das Ruder herumreißen und Lagos in den Präsidentenpalast La Moneda führen. Dazu bedarf sie der Unterstützung von Präsident Eduardo Frei und des engsten Führungskreises der Christdemokraten, die den Wahlkampf angesichts eines großen Vorsprungs in den Umfragen allzu früh vernachlässigten und für den Erdrutsch mitverantwortlich sind. Ihnen obliegt es, ihrer Klientel klar zu machen, dass sie nicht nur über den neuen Präsidenten abstimmen, sondern auch über die Zukunft des Parteienbündnisses Concertación.

Das hat Chile durch die neunziger Jahre und damit durch die sich dahinschleppende Übergangsphase zur Demokratie, die transición, geführt. Ein Balanceakt zwischen extremer Rechter, den Militärs und dem Gros der Unternehmer, die Privilegien der Pinochet-Diktatur wie die Wahlgesetzgebung vehement verteidigen, und der Linken, die die Macht dieser Koalition brechen will.

Die Concertación hat in den Augen vieler Linker einen schwelenden Konflikt eher heruntergekocht, statt klar Position zu beziehen und damit zur Entpolitisierung der chilenischen Gesellschaft beigetragen. Erst mit der Verhaftung Pinochets ist Bewegung in die Frage der Aufarbeitung der Vergangenheit gekommen. Die chilenischen Gerichte scheinen heute plötzlich gewillt, Rechtslücken in der Amnestie-Gesetzgebung aufzuspüren und zu nutzen. So werden die insgesamt 1 122 bekannten Fälle der unter der Diktatur »Verschwundenen«, die desaparecidos, rechtlich als Entführungsfälle behandelt. Das hat den Vorteil, dass diese Fälle laut Strafprozessordnung niemals verjähren. Derzeit sitzen immerhin 40 Offiziere a.D., unter ihnen drei Generäle, wegen Menschenrechts-Verletzungen in Haft. Ein Erfolg, der erst durch die Abwesenheit des ehemaligen Diktators ermöglicht wurde, meint die Juristin Ver-nica Reyna Morales vom Sozialwerk der christlichen Kirchen (Fasic).

Ohnehin ist es auffällig, dass nach langen Jahren der Blockade in die Menschenrechts-Frage Bewegung gekommen ist. Undenkbar wäre es noch vor wenigen Monaten gewesen, dass Menschenrechts-Anwälte sich mit Militärs an einen Tisch setzen, um über das Schicksal der Verschwundenen zu reden, wie es in den letzten Monaten wiederholt geschah. Für Kritiker ist der runde Tisch allerdings lediglich ein geschicktes Manöver der Regierung, um zu demonstrieren, dass Chile fähig sei, die Menschenrechts-Problematik allein anzugehen. Dabei spiele, so Fabiola Letelier del Solar, Anwältin und Präsidentin der Menschenrechts-Organisation Corporación de Promoción y Defensa del Pueblo (Codepu), der Gedanke, Pinochets Heimkehr zu ermöglichen, gewiss eine Rolle.

Für dessen Heimkehr nach Santiago de Chile sprechen sich auch beide Präsidentschaftskandidaten aus. Pinochet sei Chilene und über ihn habe allein die chilenische Justiz zu befinden, so Lavín. Ob die Justiz gegenüber dem immer noch einflussreichen Pinochet ebenso nach Lücken in der Amnestie-Gesetzgebung suchen wird, ist allerdings zu bezweifeln. Für die Militärs und viele Unternehmer ist Pinochet eine unantastbare Person, und gleiches galt bis zur heißen Phase des Wahlkampfs für Lavín, der in den achtziger Jahren zu den Wirtschaftsberatern des Diktators gehörte.

Mit der Forderung, das Schicksal der Verschwunden aufzuklären, geht Lavín zumindest vordergründig auf Konfrontationskurs zu den Militärs, die zu derartigen Zugeständnissen nicht bereit sind. Auch seine eigene parteipolitische Klientel dürfte Lavín mit seinem Politikstil verschrecken, der nicht auf das bewährte Säbelrasseln, sondern auf die bedingungslose Ausrichtung der Gesellschaft nach den Gesetzen des Marktes setzt. Die Polarisierung der chilenischen Gesellschaft ist dabei aus Sicht des Chicago-Boys Lavín ein Störfaktor, der die wirtschaftliche Entwicklung Chiles behindert. Zugleich aber auch verhandelbare Masse, die ein Arrangement mit den alten Eliten nicht ausschließt.