Ratten auf der Flucht

Vor 30 Jahren wurde »Deep Purple in Rock« eingespielt.

Auf einer einsamen Insel, ich glaube vor Grönland, lebt ein alter Mann, der, wann immer er seine Fische ausnimmt, dieselben Singles von Esquerita hört. Er stellt sich seinen kleinen batteriebetriebenen Plattenspieler im Keller auf, fingert eine der zerkratzten Scheiben aus dem Regal, dreht den Lautstärkeregler nach rechts, seufzt einmal tief und greift zu seinem schärfsten Messer.

Die Geschichte habe ich vor vielen Jahren in einem Magazin gelesen. Ich bin mir nicht sicher, ob es sich tatsächlich um die Singles von Esquerita handelt. Aber zu einer so haarsträubenden Tätigkeit wie dem Ausweiden von Fischen würde die haarsträubende Musik dieses wüsten Little-Richard-Imitators recht gut passen.

Vor kurzem erzählte mir ein Freund, er habe in einer Kneipe einen schwulen Busfahrer getroffen, der seit fast dreißig Jahren jeden Tag einmal »In Rock« von Deep Purple hört. So wird der geliebte Schund zu einem Teil unseres Lebens; er führet uns durchs finstere Tal.

»Deep Purple in Rock« ist Teil auch meines Lebens; fast hätte es wegen dieser Platte eine Wende zum Besseren genommen: Als ich sie mit 13 kennen lernte, wollte ich Drummer werden wie Ian Paice. Aber die Nachbarn beschwerten sich bald über den Krach, den ich im Hobbykeller auf Onkel Hermanns alten Farbeimern erzeugt habe.

Wer in den Siebzigern männlich (gender, nicht sex) und jung war und aus proletarischem oder kleinbürgerlichem Haus kam, kannte »Deep Purple in Rock«. Einige werden es nicht zugeben, weil sie sich von den Bourgeois guten Geschmack haben aufschwatzen lassen. Durch Feinsinn, klagt Rimbaud, verliert man sein Leben; und dies war eben, sofern man davon sprechen kann, unseres.

Wenn es eine Archäologie der Leidenschaften gäbe, würde sie nicht in Fotografien, Aufzeichnungen, Überbleibseln schürfen, sie würde sich an die alten Platten halten. Gleich mit dem Intro von »In Rock« ist der pubertäre Überschwang der Ära wieder präsent: Ein elektrisches Gewitter, ein Blitzen und Donnern, und schon fegt ein Sturm dahin: »I'm a speed king / see me fly«. Das evoziert zugleich die billigen Vergnügungen der Zeit: mit einem Moped oder einer Blechkiste über die Landstraße rasen, sich mit Bier zuschütten oder eben seine Eltern mit Hard-Rock-Platten zur Weißglut reizen.

»Good golly«, »Tutti frutti«, »Lucille was oh so real / when she didn't do her daddies will»: »Speed King« ist voll von Verweisen auf Little Richard; wenn er ihn kennen würde, könnte sich der alte Fischer, der Abwechslung halber, diesen Song zu seiner blutigen Arbeit auflegen. Doch er würde gewiss bemerken, dass sich Lucilles Züge merklich verhärtet haben. »Real« ist noch immer Lucilles Revolte; der kindlich-heroische Tutti-frutti-Unsinn wird zumindest noch zitiert; das Exaltiert-Tuntige von Little Richard, der Operetten-Gestus hat sich in Ian Gillans Stimme erhalten. Aber da ist nicht mehr die wilde Party, sondern nur noch die finstere Entschlossenheit, eine zu feiern: »Gonna have a party / to save my soul«.

1970 war die Aufbruchstimmung vorüber. Auch der Hard-Rock hatte das zur Revolution und wenn nicht zur Revolution, dann wenigstens zu »La Révolte des médiocres« (wie es, in ganz anderem Zusammenhang, bei Robert Filliou heißt) Aufgelegte, das Siegesgewisse, das er Mitte der Sechziger - bei den Troggs, bei Steppenwolf - noch besaß, verloren. Nicht das Hymnische: Aber der Hymnus des Aufbruchs wich dem Hymnus der Gewalt.

Die Musik dieser Band ist nicht nur rüder und illusionsloser als der ältere Rock, sie setzt sich außerdem durch die merkwürdigen Keyboards von Jon Lord ab, die als Melodie- und nicht - wie etwa im R&B - als Rhythmus-Instrument eingesetzt werden. Dann kann der Lärm für einen Moment schwinden, und ein manchmal jazzig-prätentiöser, manchmal weltferner Orgelklang setzt ein. Lords Soli haben immer etwas Düsteres, gelegentlich etwas Wahnsinniges, wie im besten Stück der Platte, »Hard Lovin' Man»: Da tritt nicht, wie bei Kim Fowley, »a drummer somewhere in hell« auf, sondern ein Organist, der irgendwo dicht am Abgrund sitzt und abschmierende Akkorde wie Flüche hinabschickt in den Hall-Raum.

Andererseits ist Lord auch für das einzige nicht in rock gemeißelte Stück der Platte verantwortlich: den Kitsch von »Child in Time«. Es ist ein - nicht als solches ausgewiesenes - Cover des Songs »Bombay Calling« der noch heute in Sammler-Kreisen beliebten Hippie-Band It's A Beautiful Day. Lord repräsentierte den Hippie-Einfluss, den ambitionierten Bombast von Cream und Procol Harum. Aber solange er diese fragwürdigen Kulturgüter gegen Ritchie Blackmores aggressiven Krach verteidigte, gewann eben dadurch Deep Purples Musik Spannung. Nachdem Lord endgültig unterlag, wurden die Platten öde (von den simplen Rockern, die einfach als solche überzeugen - wie »Space Truckin'« -, einmal abgesehen).

Das der »Anniversary Edition« beigelegte Booklet berichtet, dass die Band die Songs in dem gemeindeeigenen Hanwell Community Centre in London erschwitzte, in ausschweifenden, anfangs noch sehr dem Rock-Jazz verpflichteten Gruppen-Improvisationen. In mehreren Sessions von Oktober 1969 bis Januar 1970 wurden die Takes meist in winzigen, wenig professionellen Studios eingespielt. Das Album erschien im Juni und verkaufte sich gleich prächtig. Die in den liner notes aufgewärmte Legende, nur in dieser Besetzung sei die Band so gut gewesen, widerlegen die nicht sonderlich bekannten Alben von Captain Beyond und Warhorse, zwei frühen Purple-Abspaltungen; sie besitzen zumindest ansatzweise den Drive von »In Rock«.

Das paganinihafte Virtuosentum Lords mag Blackmore während der Aufnahmen zu einigen seiner Glanzleistungen angespornt haben. Eine davon, der Wah-Wah-Riff aus »Flight of the Rat«, ist Grundlage von »(I'm) In Deep«, ein Stück von Coldcut aus den Achtzigern, das Deep Purple oder wenigstens doch dieser einen Aufnahme von Deep Purple huldigt. Darüber der schneidende Sprechgesang von Mark E. Smith, dem Frontman von The Fall, einem anderen Gefährten meiner Jugend, ebenfalls ein geschworener Deep-Purple-Fan.

Ein Spaß nebenbei: Die DJs von Coldcut heißen (Matt) Black und (Jonathan) More. Blackmores Riff haben sie vielleicht nicht allein aus einer musikalischen Überlegung heraus gesampelt: »Flight of the Rat« erzählt die Lebensgeschichte eines Musikers aus der Vorstadt, der in seinen Alpträumen der Queen vorspielen muss. Aber die Übermutter möchte so wenig wie die eigene »see the show«. Der Musiker-Prolet hält sich zu Recht für einen armen Tropf. Er beschließt, es zu bleiben. Von nun an will er nicht mehr »so cool« sein »like a blue blooded / well studded / English fool«. Scheiß auf die Queen / the fascist regime. Der Song endet mit der Warnung: »Please stay away«. Sechs Jahre später beginnt Punk.

Anfang der Siebziger konnte man als Ratte nur die Flucht nach vorn antreten. Die Hoffnung auf einen grundlegenden Wandel, darauf, dass man vom Ratten-Dasein erlöst werden könnte, hatte sich bereits zersetzt. Es war ein trübes Jahrzehnt; aber wir kämpften, auf unsere wenig wählerische, primitive Weise, doch unser Recht auf Rausch durch. Daran erinnert mich »Deep Purple in Rock«.

Deep Purple: »In Rock«. Anniversary Edition (mit Outtakes, Remixes usw.). EMI 1995