Spiegel und die Brüche

Die schwierigste Aufgabe für den neuen Präsidenten des Zentralrats der Juden wird es sein, die Spaltung der Gemeinden zu verhindern.

Paul Spiegel wollte gar nicht erst Hoffnungen auf der falschen Seite aufkommen lassen: Wie sein Vorgänger Ignatz Bubis, erklärte der neue Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland unmittelbar nach seiner Wahl, werde er sich politisch äußern, wenn er »die Demokratie in Gefahr« sehe. Dass diese Einschränkung durchaus nicht bedeutet, dass man von ihm nichts hören werde, machte er auch gleich deutlich: In Deutschland, erklärte Spiegel, gebe es ein anhaltend hohes Maß von Antisemitismus, und das »unbefangene Gegenübertreten« von Juden und Nichtjuden sei weiter nicht selbstverständlich.

Diese Worte hätten von Ignatz Bubis sein können, und unter seinem Porträt wurden sie am Sonntag in Berlin auch - eingebettet in viel Optimismus - gesprochen. Die vorangegangene Wahl des Präsidenten war zwar die erste Kampfabstimmung in der fünfzigjährigen Geschichte des Zentralrats gewesen, doch es war kein Zufall, dass sich Spiegel und seine am Ende mit drei gegen sechs Stimmen unterlegene Gegenkandidatin Charlotte Knobloch in vielem so ähnlich sind. Wochen vorher hatte der erfolgreiche Frankfurter Architekt und Buchautor Salomon Korn, Bubis-Nachfolger an der Spitze der zweitgrößten jüdischen Gemeinde in Deutschland, formuliert, auf die Autorität der Holocaust-Überlebenden könne man diesmal noch nicht verzichten.

Damit hatte Korn, der selbst als einer der aussichtsreichsten Kandidaten gegolten hatte, sich selbst aus dem Kreis der möglichen Bewerber ausgeschlossen und die Kandidatur auf Spiegel und Charlotte Knobloch, die Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, beschränkt.

Sowohl der 62jährige Spiegel, bisher Vorsitzender des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein, als auch die fünf Jahre ältere Charlotte Knobloch überlebten die Shoah als Kinder im Versteck: Frau Knobloch getarnt als uneheliches Kind einer Hausangestellten ihres Onkels in Franken, Spiegel bei einer Bauernfamilie im von den Nazis besetzten Belgien. Beide beschlossen nach dem Krieg, in Deutschland zu bleiben. Sowohl Knobloch als auch Spiegel ließen vor der Wahl erkennen, dass sie ein stärkeres Augenmerk auf die inneren Probleme der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland legen wollen, wobei ihnen das Wichtigste der Erhalt der Einheitsgemeinde ist, in der religiöse und weltlich orientierte, orthodoxe und liberale Juden gleichermaßen Platz haben.

Diese scheinbare Beschränkung auf das Innenleben der jüdischen Gemeinschaft hatte an mancher Stelle leise Hoffnungen geweckt, dass eine unbequeme Stimme in Zukunft zumindest wesentlich leiser zu vernehmen sein werde. »Keiner der beiden Nachfolgekandidaten«, schrieb etwa die FAZ, »werden das Präsidentenamt im Stile und in der Präsenz ihres Vorgängers weiterführen.«

Dass daran trotz aller grammatikalischen Unsicherheit ein Körnchen Wahrheit sein mag, hat zwei Ursachen: Zum einen hat Bubis in sein Amt so viel Zeit und Arbeit investiert, dass er wohl letztlich daran starb, und Spiegel, der eine Künstleragentur führt, hat bereits signalisiert, dass er nicht bereit ist, sich gesundheitlich und geschäftlich für das Amt zu ruinieren. Zum anderen aber - das dürfte der wichtigere Grund sein - hat sich die Situation der jüdischen Gemeinden in Deutschland in den letzten Jahren so radikal gewandelt, dass schlimmste Befürchtungen, von der Spaltung bis zum Bankrott, angebracht scheinen. Wer an der Spitze des Zentralrats steht, muss jetzt integrieren und Lobby-Arbeit betreiben.

Liest man die Allgemeine Jüdische Wochenzeitung - nicht die Seite eins, wo die klugen Kommentare eines Moritz Neumann oder eines Michel Friedman stehen, sondern die Seiten 9, 10 und 11 - so gewinnt man einen Eindruck, welcher Art die Probleme sind, die Paul Spiegel während seiner dreijährigen Amtszeit wohl hauptsächlich umtreiben werden. »Gemeinden« heißt diese Rubrik, hier geht es um Deutschunterricht und Talmud-Stunden, um Chanukka-Feiern und Synagogen-Neubauten. Das ist nicht die Vereinsmeierei, nach der es zunächst klingt, denn immer geht es dabei auch um den Streit darüber, wer mit welchem Recht in den Gemeinden mitzureden hat: die 50 000 jüdischen Zuwanderer aus der Sowjetunion oder die knapp 30 000 jüdischen Deutschen, die vor zehn Jahren schon hier lebten.

Und es geht um Geldnot. Denn obwohl die meisten der neuen Gemeindemitglieder Akademiker sind, leben zwei Drittel von ihnen in Deutschland von der Sozialhilfe und sind von der Kultussteuer befreit. Ganze Gemeinden gründen sich - vor allem im Osten - neu. Synagogen müssen gebaut werden, für Personal fehlen Geld und Ausbildungskapazitäten. Fieberhaft werden Rabbiner gesucht - in Deutschland gibt es bislang keine eigene Rabbinerausbildung. Zur Zeit werden die Voraussetzungen für einen solchen Studiengang an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg geprüft.

Die Jüdische Gemeinde zu Frankfurt am Main, Wirkungsstätte des verstorbenen Zentralratspräsidenten Ignatz Bubis, klagt über zusätzliche Schulden in Höhe von zwei bis drei Millionen Mark, die jedes Jahr auflaufen. Der Grund: das Anwachsen der jüdischen Bevölkerung Frankfurts von rund 3 500 Menschen Anfang der neunziger Jahre auf jetzt 6 500. 2 300 neue Gemeindemitglieder sind in dieser Zeit aus Osteuropa zugewandert, und die meisten sind nicht in der Lage - wie die so genannten Alteingesessenen -, finanziell zum Gemeindeleben, zur Finanzierung mehrerer Synagogen, von Friedhöfen, Kindergärten, Schulen, Abendkursen für Erwachsene und einem Altenzentrum beizutragen. Der Etat ist von 19 auf 30 Millionen angewachsen, ohne dass die Zahl derjenigen, die ihn tragen, wesentlich gestiegen wäre. 1,2 Millionen Mark beträgt allein der jährliche Schuldendienst.

Ohne eine Erhöhung der kommunalen und Landes-Zuschüsse von bisher insgesamt vier Millionen Mark jährlich drohen wesentliche Teile der Gemeindearbeit wegzubrechen. Die Erhöhung müsste sich in der Höhe zumindest am personellen Zuwachs der Gemeinde orientieren, fordert Michel Friedman, der unter anderem Pressereferent der Gemeinde ist. Es gehe um die historische Frage: »Wie geht Deutschland mit einer wachsenden jüdischen Gemeinde um?« Immerhin hätten die jüdischen Einwanderer der deutschen Gesellschaft mit ihrer Entscheidung, sich gerade hierhin zu wenden, einen »Vertrauensvorschuss« gewährt. Und kaum ein deutscher Politiker hatte Probleme, mit diesem Vertrauen für sein Land zu werben.

Frankfurt ist längst kein Einzelfall: In den meisten Jüdischen Gemeinden ist die Zahl der Mitglieder prozentual noch stärker angestiegen, und zumeist sind die finanziellen Probleme ebenso groß wie in der hessischen Bankenmetropole. Das betrifft vor allem die Gemeinden in Ostdeutschland, die häufig zu fast 100 Prozent aus Zuwanderern bestehen, aber auch zum Beispiel in Rheinland-Pfalz, wo sich die Zahl der Mitglieder fast verfünffacht hat. Dazu kommt eine hohe Zahl von Kontingentflüchtlingen, die oft monatelang in unterschiedlichen Heimen untergebracht werden und keiner jüdischen Gemeinde beitreten, weil ihr endgültiger Wohnort noch gar nicht feststeht. »Der Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Rheinland-Pfalz sucht baldmöglichst einen Kantor und Religionslehrer« heißt es in einer Anzeige in der Allgemeinen: »Russische Sprachkenntnisse sind wünschenswert.«

Der Religionsunterricht findet zumeist noch gemeinsam statt, doch das soziale Leben der Gemeinden hat sich vielerorts - in Düsseldorf etwa oder in Deutschlands größter jüdischer Gemeinde in Berlin - getrennt: Hier der deutsche Chanukka-Ball, dort der russische, hier die »Russische Sonntagsschule«, dort die Barmizwa, bei der selbstverständlich wieder mal keiner der »Russen« da ist. Wenn eine Spaltung der Jüdischen Gemeinden in Deutschland verhindert werden soll, dann wird es die Aufgabe von Paul Spiegel und seinen Stellvertretern Charlotte Knobloch und Michel Friedman sein, beide Gruppen zusammenzubringen.