Nachruf auf Bill Gates

Das Gefühl von Sicherheit

Vielleicht sollten die Amerikaner mit Bill Gates so verfahren wie die Europäer mit Napoleon. Der französische Herrscher wurde auf Helena verbannt. Wollte man den Microsoft-Chef aber richtig ärgern, dann müsste man ihn vor die Wahl stellen, sich auf der einsamen Insel zwischen den Büchern zweier Autoren zu entscheiden: Henry Ford oder Karl Marx?

Ford war zwar Kapitalist, sein antisemitisches Hauptwerk »Der internationale Jude« wünscht man aber noch nicht einmal seinem ärgsten Feind als Zwangslektüre. Also Marx. Für schlichte Gemüter empfiehlt sich »Das Kommunistische Manifest« als Einstieg, einfach und - wie gute Software - ohne fucking manual zu verstehen.

Gates wäre überrascht, weil Marx die aktuelle Situation von Microsoft gut vorhergesehen hat: »Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erkugel.« Okay, würde Bill murmeln, gestern mit der Kutsche, heute per E-Mail. »An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen untereinander.« VEB Robotron war anachronistisch, Windows ist weltweit im Trend.

Aber, schreibt Marx, das gelte auch für die immaterielle Produktion: »Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut.« Hier würde der Microsoft-Chef erschrecken: Seine Software ist ein geistiges Erzeugnis, auch wenn sie halb von der Konkurrenz geklaut ist. Windows ist gemein im Sinne des englischen common, weil es fast jeder auf seinem PC hat. Aber die spezifischen Abfolgen von Nullen und Einsen sind nicht Gemeingut. Und alle müssen an Bill Gates zahlen. Sollte Karl Marx auch das Betriebssystem Linux vorausgesagt haben?

Bill Gates hat ein Problem: Sein Kapitalismus ist der des 20. Jahrhunderts. Wissen ist Macht, und Herrschaftswissen bringt Profit. Das stimmt im neuen Jahrtausend bei Software nur noch eingeschränkt. Wissen lässt sich nicht mehr absolut geheim halten. Es gibt immer jemanden, der alles genauso gut kann. Und der für Konkurrenten arbeitet. Deshalb hätte Microsoft beinahe das Internet verschlafen. Ein guter Kapitalist ist aber nicht der, der die besten Ideen hat, sondern der, der sie gut verkauft. Auch wenn sie nicht seine sind. Gates war immer ein guter Kapitalist. Aber das Internet kann man nicht verkaufen. Es ist einfach da.

Und alle wollen rein. Warum, das ist für die DAUs (die Dümmsten Anzunehmenden User) ebenso unwichtig wie für die Anbieter. Verkaufen, verkaufen, verkaufen und nicht an die Käufer denken - das war Microsofts Motto. Dagegen hat der Kapitalismus keine Einwände. Das sinnfreie Verjubeln allen Geldes ist ihm immanent. Wie seit dem Neolithikum zu sehen, lernt der Nachwuchs nicht aus den Fehlern der Älteren. Der größte Monopolist tritt jetzt ab, andere Medien-Riesen konzentrieren ihre Macht. Solange, bis die Kartellgesetze der USA AOL-Time Warner usw. ein ähnliches Schicksal bereiten werden wie jetzt vermutlich Microsoft.

Bill Gates macht das, wovon jeder träumt. Er zieht sich zurück, um zu meditieren: Internet ohne Computer, die immer neu gekauft werden müssen; Handys und Armbanduhren, mit denen man ins virtuelle Ulan Bator surfen kann. Das ist die Zukunft. Der ehemalige Microsoft-Chef muss sich selbst und seine Ideen abschaffen, ohne dass es jemand merkt.

Ändern aber wird sich kaum etwas. Microsoft-Software ist, was die Voreinstellungen betrifft, voller Sicherheitslücken. Mehrmals im Monat veröffentlicht der Konzern »patches«, wie der DAU Fehler im System beheben kann - was kaum jemand tut. Die Surfer werden auch ohne Gates' Vorgaben eine Datenspur hinterlassen - mit dem Handy oder mit der Armbanduhr -, Werbefirmen und andere werden sie ausspitzeln und mit zielgruppengerechter Werbung überschütten.

Windows wird uns fehlen - aus pädagogischen Gründen: Wenn das System täglich abschmiert, lernt man es kennen. Man geht mit dem Computer bewusst um, wie mit einem alten VW, den man selbst reparieren kann. Was unsicher ist, schärft das Bewusstsein für Sicherheit. Danke, Bill Gates, für diese Einsicht!