Dinner for One

Asienpfanne XIV. und letzte Folge: Die vermeintliche Reinigungskrise hat die strukturellen Probleme in den »Tigerstaaten« nicht gelöst, sondern verlagert und aufgeschoben.

Die Fassade bröckelt. In immer kürzeren Abständen brechen größere und kleinere Katastrophen und Krisen über die im Zeichen der Wertverwertung vereinte »one world« herein und künden vom Näherrücken der absoluten ökonomischen, ökologischen und sozialen Schranken der Warengesellschaft. Der kasinokapitalistische Zeitgeist übt sich angesichts dieser Entwicklung in Gesundbeten.

Ab und an unterbrechen zwar akute Panikattacken den Zweckoptimismus; werden die schlimmsten apokalyptischen Phantasien indes nicht unmittelbar Realität, kehrt man alsbald wieder zur Entsorgungs-Tagesordnung zurück. Der reale historische Krisenprozess verschwindet hinter den Wechselfällen scheinbar zusammenhangsloser und damit in Grunde bedeutungsloser Krisenevents. Solange kein einzelnes das kapitalistischen Zentrum unmittelbar ins Armageddon stürzt, »beweist« jedes von ihnen nur die Unerschütterlichkeit der bestehenden Ordnung. Die Warengesellschaft ist bisher nicht gestorben, ergo ist sie unsterblich.

Dieses Muster prägt auch die Sicht der so genannten Asienkrise. Die »Tigerstaaten« haben die schweren Einbrüche von 1997/98 zwar noch lange nicht wettgemacht, sie weisen aber, bis auf Indonesien, derzeit wieder Wachstumsziffern aus, und auch die Aktienkurse haben sich einstweilen erholt. Grund genug für ein freudiges »Alles paletti«. Die höchst prekäre Grundlage der viel gepriesenen Stabilisierung nimmt man lieber nicht in Augenschein. Die Krise im Fernen Osten hat abgeschlossen zu sein und überhaupt, es hat sich dabei sowieso nur um ein lokales, spezifischen asiatischen Fehlentwicklungen geschuldetes Ereignis gehandelt. Basta!

Von dieser Art von Autosuggestion geht offenbar - der Beitrag »Krise als Lösung« von Michael Heinrich in Jungle World, 2/00, dokumentiert das - auch auf die Linke ein osmotischer Druck aus. Der Autor tut in seinem Artikel jedenfalls nichts anderes, als die offizielle Entwarnungsrhetorik in marxistische Termini zu übersetzen: Ost-Asien soll nach dem Abschluss einer schmerzhaften »Reinigungskrise« wieder eine Phase ungestörter Akkumulation vor sich haben. »Die Asienkrise war das, was Krisen schon immer waren: eine gewaltsame Lösung angestauter Probleme.«

Mit der realen Entwicklung lässt sich diese buddhistisch-marxistische Sichtweise genauso wenig zur Deckung bringen wie das gesamte Entsorgungsunternehmen. Schon wenn Heinrich die Asienkrise als »geradezu klassische Überakkumulationskrise« verkaufen will, verharmlost er damit die wirklichen Vorgänge. »Klassische Überakkumulationskrisen« gibt es im Zeitalter des Kasino-Kapitalismus, in dem die reale Verwertung zum Anhängsel der Selbstbewegung des Geldkapitals geworden ist, weder in Asien noch sonstwo. Wo Krisenerklärung die Ebene des Finanzüberbaus einfach auslässt, wird sie zu Krisenverklärung.

Richtig an Heinrichs Deutung ist so viel: Die bis dahin exorbitanten Wachstumsziffern der »Tigerstaaten« waren seit Mitte der neunziger Jahre rückläufig. Südkorea und Co. bekamen damals zu spüren, dass sie weder das »Entwicklungsmodell« Exportkonjuktur durch Billiglohn ewig fortschreiben noch aus ihm ausbrechen konnten. Weil immer mehr Länder sich den kapitalistischen Zentren als verlängerte Werkbänke für arbeitsintensive Fertigungssegmente anboten, verschlechterten sich für die einzelnen konkurrierenden peripheren Standorte die Erfolgsaussichten.

Der Übergang zu einer High-Tech-Produktion wiederum wurde durch die - gemessen an den kapitalistischen Zentren - eklatante Unterkapitalisierung der Unternehmen und die von westlichen Standards meilenweit entfernte infrastrukturelle Ausstattung der ostasiatischen Tiger-Standorte blockiert. Nach einer 1996 veröffentlichten Prognose der asiatischen Entwicklungsbank hätten bis zum Ende des Jahrzehnts, auf den gesamten ostasiatischen Newcomer-Raum hochgerechnet, mindestens fünf Billionen Dollar in die Infrastruktur fließen müssen, um die Voraussetzungen für die Fortsetzung der Expansionsbewegung zu schaffen.

Es versteht sich von selber: Dieser Kapitalbedarf sprengt jeden Rahmen. Selbst Bruchteile davon ließen sich nicht intern, sondern nur über massiven Kapitalimport decken. Der Glaube an das kommende pazifische Zeitalter lockte auch tatsächlich beträchtliche Mittel nach Ost-Asien. Dummerweise waren die transnationalen Finanzmärkte aber nicht bereit, diese Gelder zu verschenken. So beeindruckend das Exportwachstum der »Tigerstaaten« auch anmuten konnte, viel schneller türmten sich die Auslandsschulden auf, und bis zur Mitte des Jahrzehnts kippte sogar die Handelsbilanz der hoffnungsfrohen Newcomer - mit Ausnahme von Taiwan - wegen der Einfuhr notwendiger Investitionsgüter ins Negative. Allein von Januar bis Juli 1997 summierte sich das Defizit von Indonesien, Korea, Malaysia, den Philippinen und Thailand auf 40 Milliarden Dollar.

Bis in die achtziger Jahre hinein hatten sich die Schwellenländer aus vergleichbaren Schieflagen durch Währungsdumping befreit. Die wachsende Abhängigkeit vom Zufluss ausländischen Privatkapitals verbot es indes, diese Methode der Verbesserung der Wettbewerbsposition noch einmal ins Spiel zu bringen. Jedes Liebäugeln mit der Option Abwertung von Seiten der ostasiatischen Regierungen hätte nicht nur schon im Vorfeld eine massive Kapitalflucht ausgelöst und die Region vom Geldstoff abgeschnitten, auf den sie so dringend angewiesen war; mit sinkendem Außenwert explodieren auch unweigerlich die Kosten des Schuldendienstes.

Das grundsätzliche Dilemma, eigentlich abwerten zu müssen und es gleichzeitig nicht zu dürfen, wurde von der spekulativen Bewegung zwangsweise aufgelöst. Das Geschäft, zu dem sich die Regierungen aus guten Gründen nicht durchringen konnten, besorgten die Panikreaktionen der Finanzmärkte. Mit den Aktienkursen brach im Sommer 1997 die Anbindung der südostasiatischen Währungen an den Dollar zusammen, und die Wechselkurse stürzten ab. In Indonesien lag der Außenwert der Währung im September 1998 schließlich bei 20 Prozent des Werts vom Januar 1997, in Malaysia bei 40 und in Süd-Korea immerhin bei 50 Prozent.

Eine einstweilige Auflösung der vorhandenen strukturellen Widersprüche im Gefolge des Crashs, wie sie Heinrich generell behauptet, bedeutete dies nur in einer Hinsicht. Das laufende Außenhandelsdefizit ist mit dem Währungs- und Börsenabsturz schlagartig verschwunden. In der zweiten Hälfte des Jahres 1997 erwirtschafteten die gleichen Staaten, die in den ersten sechs Monaten noch ein Defizit von 40 Milliarden Dollar zu verzeichnen hatten, plötzlich 80 Milliarden Überschuss. Diese »Sanierung« beruht freilich allein darauf, dass sich die Tigerstaaten, abgeschnitten von der Frischgeldzufuhr, die notwendigen Importe für Investitionen nicht mehr leisten können und sie ihre Einfuhren innerhalb von anderthalb Jahren halbiert haben. Das wurde nicht nur mit der nachhaltigen Senkung des Lebensstandards bezahlt, dieses Plus ließ sich auch nur - und das trifft den kapitalistischen Verwertungsprozess viel härter - durch den Übergang zu einer autokannibalistischen Wirtschaftsweise erwirtschaften, in der die vorhandene volkswirtschaftliche Substanz rücksichtslos aufgezehrt wird. Die Exportwirtschaft ist zwar halbwegs wieder auf Touren gekommen, sie donnert aber auf der Felge dahin.

Die vermeintliche »Reinigungskrise« hat die strukturellen Probleme nicht gelöst, sondern nur verlagert und zeitlich verschoben. Die unfreiwillige Abwertung der ostasiatischen Währungen hat zwar den Exportindustrien Preisvorteile verschafft, sie hat die Region aber dafür in die Schuldenfalle getrieben. Wenn die indonesische Währung auf einen Viertel ihres Ausgangswertes gefallen ist, dann muss das Land, nach Adam Riese, jetzt viermal so viel Güter auf den ausländischen Märkten losschlagen, um die Schulden zu bedienen, wie im Januar 1997.

Damit aber nicht genug. Auch nach innen steht die Berichtigung monetärer Ansprüche, die Heinrich für abgeschlossen erklärt, überhaupt erst an. Dass in allen Newcomer-Ländern angesichts des Kriseneinbruchs mit Unterstützung des IWF und gegen jede liberale Doktrin der Bankensektor de facto verstaatlicht wurde, ist nicht nur ein historischer Treppenwitz. Allein durch die Sozialisierung der Verluste konnte der vollkommene Zusammenbruch des ganzen Finanzüberbaus, der zur Still-Legung jeder wirtschaftlichen Aktivität geführt hätte, verhindert werden.

Der Druck der Altlasten aber bleibt enorm. Aus den akuten Problemen sind nun chronische geworden. In Thailand beispielsweise belaufen sich die nicht mehr bedienten und nun sozialisierten Kredite immerhin auf 60 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts (Bip). In Malaysia und Südkorea ist, wie das Handelsblatt im Dezember 1999 en passant eingestand, nach wie vor ein Viertel der an der Börse notierten Unternehmen nicht in der Lage, seine Schulden zu bedienen. Nach Schätzungen der Weltbank würde die Rekapitalisierung der Banken in Indonesien 107 Prozent des jährlichen Bip und in Thailand 47 Prozent beanspruchen. All diese Gelder müssten zusätzlich zu den überfälligen laufenden Infrastruktur-Investitionen aufgebracht werden. Nur weil das alles für Heinrich kein Thema ist, kann er von einem neuen Durchstartversuch phantasieren.

Michael Heinrich will seine Auslassungen als Kontrapunkt zu Positionen verstanden wissen, »denen die Krise lediglich als Illustration der eigenen unverrückbar feststehenden Weltsicht dient«. Gemeint sind damit namentlich zusammenbruchstheoretische Positionen, also im Klartext die Krisis. Heinrich dagegen gefällt sich als Kenner der Empirie. Diese Rollenverteilung entbehrt angesichts seiner Auslassungen nicht einer gewissen Komik. Offenbar schreit hier wieder einmal ein flüchtiger Dieb: »Haltet den Dieb.«