Als die Kämpfe kleiner wurden

In 30 Jahren von der »Internationalen Marxistischen Diskussion« zum »Internationalen Merve Diskurs«.

Es begann, wie solche Dinge im Gefolge der Geschehnisse von 1968 eben begannen: als Studentenkollektiv. 1970 beschlossen Merve Lowien und ihr Mann Hans-Peter Gente zusammen mit einigen Geistesverwandten, einen kleinen Verlag in Berlin zu gründen. Das Projekt erhielt den ungewöhnlichen Namen der Mitverlegerin: Merve. Zu Beginn gab es quasi nur die Qualifikationen der Beteiligten: Übersetzerin, Drucker und Radiojournalist waren bereit zur Selbstausbeutung. »Dann wurde für 500 Mark Papier gekauft, und es ging los«, erklärt mir Heidi Paris am Telefon. Sie macht heute zusammen mit Gente den Verlag, nachdem sich das Kollektiv Mitte der siebziger Jahre auflöste.

Damals stand ihr Eintritt für einen Format- und Programmwechsel. Am Anfang erschienen die Bücher in der Reihe »Internationale Marxistische Diskussion« im Din-A-5-Format. 1975 schnurrten die Bücher auf die heute noch gültige Größe zusammen und später wurde der Übertitel in »Internationaler Merve Diskurs« geändert. Die Verkleinerung symbolisierte dabei einen Übergang zu den so genannten kleinen Kämpfen: Lauteten die Themen zuvor »Staat und Revolution«, »Kontroverse über die Möglichkeiten der Revolution in den USA« oder »Techniker, Macht und Klassenkampf«, wurde nun - zunächst schleichend, später offensiv - umgesattelt auf das »Patchwork der Minderheiten«, wie ein viel zitierter Lyotard-Titel hieß. Es ging um die theoretische Begleitung der Kämpfe von Spontis, Frauen, Schwulen, Psychiatrisierten und Gefangenen.

Die meisten der Merve-Bücher der Anfangstage waren Übersetzungen. Im Kollektiv war man unzufrieden mit der »Verhärtung« der deutschen Diskussion, wie Heidi Paris erklärt. Der Theorie-Import sollte das Feld internationalisieren und gleichzeitig differenziertere und undogmatische Ansätze verfügbar machen. Insofern versuchte man, beispielsweise mit Texten des britischen Neuen Linken Ralph Milliband oder solchen des Franzosen Nicos Poulantzas, den oft sträflich unterrepräsentierten Staat als Kategorie in die marxistische Analyse hineinzutragen. Aus Italien kamen Erörterungen zur materialistischen Methodologie ebenso wie Papiere aus dem Umfeld von Lotta Continua und Operaismo.

Zweifellos ging es bereits zu dieser Zeit weit mehr um ein verstreutes Universum praktischer revolutionärer Politiken als um das große Ganze. Welches Buch tatsächlich den Umschwung brachte, ist schwer zu sagen. Waren es jene über die »Macht der Frauen« oder über die »Lust, Frau zu sein»? Waren es Giovanni Jervis, Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Interventionen gegen die Psychiatrie? Michel Foucaults »Mikrophysik der Macht»?

Der Text, der heute von Heidi Paris als paradigmatisch für jene Phase genannt wird, ist Lyotards Bändchen über »Das Patchwork der Minderheiten«. Noch heute ranken sich um den Titel des Buches angeekelte Zurückweisungen von orthodoxen Linken ebenso wie neoliberale Postmodernismus-Phantasien. Doch oft genug hat man das Gefühl, dass es sich mit diesem Schlagwort genauso verhält wie mit jenem »Anything Goes« von Paul Feyerabend: Jeder führt es im Munde, doch niemand hat die zugehörigen Texte wirklich gelesen.

In dem Aufsatz »Kleine Perspektivierung der Dekadenz und einiger minoritärer Gefechte, die hier zu führen sind« versuchte Lyotard damals, seinen marxistischen Hintergrund mit der Realität jener um ihn herum tobenden »kleinen Kämpfe« theoretisch in Verbindung zu bringen. Lyotard sah das Gemeinsame der punktuellen Revolten der Neuen Sozialen Bewegungen in einer Aufkündigung der Beziehung zum Zentrum. Je mehr Kategorien, je mehr Leute, die ihre Geschäfte selbst in die Hand nehmen, so dachte er, desto weniger Einfluss erhält die zentralisierte Verwaltung - und schließlich verschwindet das Zentrum ganz.

Das war zu dieser Zeit ein etwas patronisierender, aber durchaus vertretbarer Gedanke. Leider wurde Lyotard in späteren Jahren zu senil, um zu erkennen, dass man ab einem gewissen Zeitpunkt im »Zentrum« genau diese Entwicklung zutiefst bejahte. In den heutigen Unternehmer-Individuen haben sich diese Kämpfe im neoliberal-hegemonialen Sinne erfüllt: Niemand hat mehr auch nur eine Idee von zentralisierter Macht, während wacker den ureigensten Geschäften nachgegangen wird.

Doch damals war diese Entwicklung nicht abzusehen, und ich halte es für ein Verdienst der »Franzosen«, dass sie in den siebziger Jahren versucht haben, die Praxis der »verstreuten und diskontinuierlichen Angriffe« theoretisch zu fundieren. Allerdings gab es beim Import dieser Theorie ein immenses Übersetzungsproblem. Während in Frankreich im Grunde schon mit der »Entkolonisierung« die Differenz im Vordergrund stand, also ein Kampf geführt wurde gegen die Ansprüche eines universellen, heterosexuellen Subjektes, blieb in Deutschland selbst die Frauenbewegung einem moralischen Universalismus verpflichtet. Die Kämpfe von Migranten spielten ohnehin eine untergeordnete Rolle, und wenn sie stattfanden, sahen Linke noch bis in die achtziger Jahre eine superproletarische Avantgarde am Werke.

Differenz und Partikularität waren hierzulande historisch immer an das Völkische gekoppelt - der Kampf um das »Eigene« war tief in das deutsche Verständnis der Nation eingeschrieben. Daher schien eine Kritik der Aufklärung oder ein »linker Gebrauch« von Denkern wie Nietzsche oder Heidegger in Deutschland gerade den progressiven Kräften verdächtig: Nicht umsonst haben sich akademische Linke wie Manfred Frank oder Jürgen Habermas - zum Teil mit absurdem Unverständnis gegenüber dem »Neostrukturalismus« - vehement gegen die »Franzosen« ausgesprochen. Und tatsächlich haben ja in den neunziger Jahren einige poststrukturalistisch angehauchte Denker wie Walter Seitter, Dietmar Kamper oder Frank Böckelmann ihr Herz für Deutschland entdeckt.

In Texte zur Kunst hat Helmut Draxler einmal die äußerst diffuse Veröffentlichungspraxis des Merve-Verlages dafür verantwortlich gemacht, dass größere Häuser die Hauptwerke der betreffenden Denker nicht mehr anrührten. Daher hätte eine »seriöse Aufarbeitung« nicht stattfinden können. Tatsächlich waren die Merve-Bändchen immer ein wenig »unseriös« - es waren Schnipsel aus größeren Werken, Aufsätze ohne Angabe der Erstveröffentlichung, Vorlesungstranskripte, Interviews. Aber diese Verfahrensweise gehörte gewissermaßen mit zum politischen Anspruch, der sich mit jener von Deleuze und Guattari vorgeschlagenen »rhizomatischen« Lektürepraxis verband: »Nehmt euch, was ihr wollt.« In diesem Sinne ist abgesehen von Michel Serres' »Hermes»-Projekt, das ein wenig aus dem Merve-Programm herausfällt, eben Deleuzes und Guattaris »Tausend Plateaus« das einzige Hauptwerk, das der Verlag je publiziert hat. Und dieses Buch funktioniert eben wie ein monumentales Merve-Bändchen.

Dennoch war diese Veröffentlichungspraxis mitnichten für die mangelnde »seriöse« Interpretation der »Franzosen« verantwortlich. Beim Mainstream der deutschen Linken und Linksliberalen stand der Poststrukturalismus von Beginn an unter Verdacht. Da Denken keine soziale Erdung in den Bewegungen hatte, wirkte es im besten Falle apokryph und im schlimmsten Falle konservativ. Von Foucault mal abgesehen, der in letzter Zeit sowohl bei radikalen Linken (siehe die armselige Foucault-Vereinnahmung von Robert Kurz im »Schwarzbuch des Kapitalismus«) als auch in akademischen Kreisen an Achtung gewinnt, blieb die Distanz erhalten. »Tausend Plateaus« ist weiterhin kein Fall für ernsthafte Lektüre, sondern für Spektakel an der Volksbühne.

Schließlich ist es nicht verwunderlich, dass die »Franzosen« im Umfeld der Popkultur oder der »Kulturlinken« auf Interesse stießen. Diedrich Diederichsen meinte mal, dass das neue Merve-Bändchen »für eine gewisse Zeit für gewisse Kreise so etwas wie die neue Indie-Platte« war. Dabei werde »die Theorie« nicht durchgearbeitet, sondern eher osmotisch aufgenommen. Tatsächlich entsprach auch die Praxis des Kölner Pop- und Kunstumfeldes und seiner Satelliten durchaus jener Theorie, die aus Frankreich kam. Selbst frühe Techno-Befürworter wie Sascha Kösch stöberten gern in Merve-Bändchen und hielten Drum'n'Bass für die Verkörperung des osmotisch aufgenommenen Poststrukturalismus. Und wenn man heute bei DeBug und ähnlichen Projekten überhaupt noch etwas sagt, dann weiß man vor allem diese »französischen« Weisheiten zum Besten zu geben: Sinn ist etwas Böses, und der Autor ist tot.

1971 schrieb Frank Böckelmann ein Buch, das den Titel trägt: »Die schlechte Abschaffung der autoritären Persönlichkeit«. Heute könnte man mit Fug und Recht eines schreiben, das hieße: »Die schlechte Abschaffung von Sinn und Autor«. Das Projekt der »kleinen Kämpfe« ist zweifellos gestorben. Aber damit auch die Theorie? Mal anders gefragt: Haben Sozialdemokratie und real existierender Sozialismus Marx überflüssig gemacht? Gerade dann, wenn bedeutende Teile der deutschen Linken von ihrem bornierten Germanozentrismus wegkommen möchten, kann man neben anderem die Lektüre von Foucault, Deleuze, Guattari oder Derrida nur empfehlen.

Und Merve? Nun, man macht weiter. Auf die Frage, ob sie sich denn heute noch als links bezeichnen würde, meint Heidi Paris, die Begriffe rechts und links bedeuteten ihr nichts mehr. In erster Linie möchten sie und Gente mit ihren Büchern »gute Zeitgenossen« sein. Medientheorie ist da sicher wichtig. Und überhaupt verlegen sie ja grundsätzlich nur Autoren, die sie schon jahrelang zumeist persönlich kennen. Heute funktioniert Merve ungefähr so wie die erfolgreichen kleinen Kölner Techno-Label. Da schließt sich der Kreis. Man ist mit sich zufrieden. Ich gratuliere zum 30.