Heiner Flassbeck

»Small is beautiful«

Schon unter Helmut Schmidt war Heiner Flassbeck für die Bundesregierung tätig: Damals beriet der Ökonom den späteren Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer, zu der Zeit Staatssekretär im Wirtschaftsministerium. Nach dem Richtungsschwenk der FDP zur CDU 1982 arbeitete Flassbeck als Konjunkturexperte im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Oskar Lafontaine holte ihn nach der rot-grünen Regierungsübernahme im Herbst 1998 als Staatssekretär ins Finanzministerium. Nach Lafontaines Rücktritt im März letzten Jahres feuerte der neue Finanzminister Hans Eichel den Wirtschaftsexperten.

Im Bündnis für Arbeit haben Gewerkschaften, Arbeitgeber und Bundesregierung vereinbart, die Produktivitätssteigerung zu Gunsten neuer Arbeitsplätze zu verrechnen. Ist das eine brauchbare Formel?

Ich verstehe sie nicht. Es gibt in der Marktwirtschaft keine Mechanik, nach der die Produktivität für die Beschäftigung verwendet werden könnte. Wenn man die Produktivitätssteigerung zu Lohnerhöhungen nutzt, können zwar die Kaufkraft und damit die Realeinkommen einer Volkswirtschaft erhöht werden. Am Ende kommt durch die erhöhte Produktivität aber nicht mehr Beschäftigung heraus - vielmehr ist das Ganze beschäftigungsneutral oder sogar arbeitsplatzvernichtend.

Es werden im besten Fall so viele Leute eingestellt, wie an anderer Stelle durch erhöhte Arbeitsproduktivität - beispielsweise durch Rationalisierung oder den Einsatz neuer Technologie - entlassen werden. Insofern kann der Faktor Produktivität allein niemals arbeitsplatzschaffend sein - und deshalb verstehe ich auch die Bündnis-Formel nicht: Wenn man die Löhne jetzt nicht erhöht, bedeutet das einen unmittelbaren negativen Nachfrageeffekt.

Was heißt das für die Arbeitszeitpolitik?

Auch hier gilt: Wenn die Nachfrage unverändert stiege, würden die Unternehmer mehr Leute einstellen, um die verlorene Stundenzahl auszugleichen. Im Prinzip könnte man so die Produktivität auch für Arbeitszeitverkürzungen nutzen, wobei der negative Beschäftigungseffekt durch Rationalisierung kompensiert werden müsste. Aber auch das hätte allenfalls beschäftigungsneutrale Effekte.

Woran liegt es, dass die Nachfragetheorie im Bündnis so vernachlässigt wird?

Die wird ja nur da vernachlässigt, wo man sie nicht haben möchte. Wenn wir Nachfrage aus dem Ausland haben, jubeln alle und sind glücklich. Das ist die deutsche Einseitigkeit. Seit Mitte der achtziger Jahre heißt es, nur Exportnachfrage sei gute Nachfrage. Heimische Nachfrage hingegen darf offensichtlich nicht angeregt werden. Im letzten Jahr hatten wir Glück, weil durch die extreme Unterbewertung des Euro europäische - und damit auch deutsche - Produkte immer billiger geworden sind. Erst dadurch wurde der Exportboom ausgelöst. Mit Können in der Wirtschaftspolitik hatte das nichts zu tun.

Zu welcher Lohnforderung würden Sie denn einer gewerkschaftlichen Tarifkommission raten?

Man muss sich die Erfahrungen der Vergangenheit anschauen: In den letzten 20 Jahren sind die Reallöhne immer hinter der Produktivität zurückgeblieben - ohne dass das positive Auswirkungen auf die Beschäftigung gehabt hätte. Deshalb trete ich dafür ein, dass man zu einer produktivitätsorientierten Tarifpolitik zurückkehrt. Konkret hieße das, Lohn- und Gehaltserhöhungen in Höhe der Produktivität plus der Zielinflationsrate der europäischen Zentralbank zu fordern. Dabei würde ich mich aber nicht an der Rate des Vorjahres orientieren, sondern am Produktivitäts-Durchschnitt der letzten Jahre.

Gibt man damit nicht alle Umverteilungsversuche auf?

Für die Gewerkschaften würde dies natürlich einen Kraftakt ohnegleichen bedeuten: Schließlich wäre die Lohnquote auf einem extrem niedrigen Niveau festgeschrieben. Und das, wo wir zur Zeit ohnehin schon die niedrigste Lohnquote aller Zeiten haben - niedriger noch als in den fünfziger Jahren.

Vor allem von den Unternehmern wird immer wieder auf das US-amerikanische Beschäftigungswunder oder die Politik Tony Blairs verwiesen ...

... für deren Erfolge es andere Gründe gibt. In den USA war die Lohnzurückhaltung immer viel weniger ausgeprägt als in Deutschland. Außerdem gab es seit Beginn der neunziger Jahre so gut wie kein Zurückbleiben der Reallöhne hinter der Produktivität mehr - und trotzdem hat es ein enormes Beschäftigungswunder gegeben. Und wenn man nach England schaut, sieht man, dass dort die Arbeitslosigkeit inzwischen auch sehr niedrig ist - obwohl die Bereitschaft zur Lohnzurückhaltung bei den Gewerkschaften noch geringer war als in den USA. Die Wachstumsschübe in den USA, in England oder auch den Niederlanden sind also überwiegend auf die Steigerung des privaten Verbrauchs zurückzuführen - und nicht wie in Deutschland auf den Export.

Das Bündnis für Arbeit trägt ja den viel längeren Titel »Bündnis für Arbeit, Standortsicherheit und Wettbewerbsfähigkeit«. Gegenüber wem muss Deutschland wettbewerbsfähig sein?

Das ist die entscheidende Frage. Im europäischen Rahmen sind wir nach Beginn der EU-Währungsunion noch viel weniger in der Lage, unsere Wettbewerbsfähigkeit durch nationale Maßnahmen zu erhöhen. Wir werden immer nur die anderen provozieren, das nachzumachen, was wir machen. Das sieht man an der Steuerpolitik: In vielen Ländern wird jetzt davon geredet, dass man die Steuern senken muss, weil es die Bundesrepublik auch getan hat. Als nächstes wird man hierzulande davon reden, dass die Steuern noch weiter nach unten müssen, weil die anderen es auch tun. Da wird eine Spirale in Gang gesetzt, bis dem Staat keine Mittel mehr zur Verfügung stehen - und eine völlig andere Gesellschaft entsteht. Das heißt, außer Wettläufen werden wir durch Standortpolitik nichts erreichen.

Aber muss man nicht zur Kenntnis nehmen, dass sich das deutsche Konsens-Modell zur Zeit radikal wandelt? Traditionskonzerne wie Daimler oder Bertelsmann fusionieren mit US-amerikanischen Unternehmen und dehnen sich weltweit aus.

Auch das ist kein neuer Prozess. Lediglich das Tempo hat zugenommen - was aber nicht per se gefährlich ist. Die so genannte Globalisierung wird erst dann problematisch, wenn sich unser Gesellschaftssystem vollkommen verändern sollte. Zum Beispiel dann, wenn die Konzerne ständig damit drohen abzuwandern - was ja im Prinzip eine leere Drohung ist.

Man muss dies vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslosigkeit bewerten. Die Fusionswelle ist zur Zeit zwar groß in Mode, aber irgendwann wird es wieder eine Gegenwelle geben. Dann wird es auch »small is beautiful« heißen - spätestens, wenn man merkt, dass solche Konzerne gar nicht vernünftig zu lenken sind.