Der maue Engel

Obwohl Katja Flint den Look-Alike-Wettbewerb gewinnt, ist Joseph Vilsmaier mit »Marlene« wieder nur ein mittelmäßiger Film gelungen.

Der Mai 1992 war, wie ein Geschenk des Himmels, heiß und klar über Berlin hereingebrochen. Er roch verfrüht nach Ferien, Freibad und Speiseeis. Plötzlich aber roch die beschauliche Idylle auch sensationell nach Hollywood und Glamour, Filmhistorie und Weltruhm. Denn am 6. Mai war die Berlinerin Marlene Dietrich im Alter von 90 Jahren in Paris gestorben. Überraschenderweise wollte sie in ihrer Geburtsstadt begraben werden. Die Beisetzung fand am Samstag, den 16. Mai, in Friedenau statt.

Der eingeflogene Sarg lagerte eine Nacht lang in der Zentrale des Beerdigungsinstituts Grieneisen in Schöneberg. Mein Freund Olaf und ich hatten am Abend reichlich auf die Diva angestoßen und uns für den nächsten Tag beiläufig »bei Grieneisen« verabredet. Einen Besuch am Grab wollten wir unter weniger turbulenten Umständen nachholen. In der ruhigen, strahlend hellen Belziger Straße trafen wir auf eine stattliche Fan-Gemeinde. Vereinzelte Gegner hatten sich direkt vor dem Friedhof versammelt, um dort »Vaterlandsverräterin« und Ähnliches zu rufen. Hier aber hatte die Atmosphäre etwas unwirklich Erhabenes und spontan Feierliches. Wir waren nicht die einzigen, die mit Blumen in der Hand aufgeregt warteten, als ob die Dietrich gleich leibhaftig zu uns herauskommen würde.

Stattdessen verließ kurz nach halb elf Uhr ein geschmücktes Auto das Gebäudeportal. Der schwarze, offene Cadillac sah sehr groß und massiv aus, der helle Sarg, auf den wir unsere Rosen warfen, sehr klein und zerbrechlich. Begleitet von der Menge, schob sich der Wagen mühsam in die Martin-Luther-Straße, wo der gesamte Verkehr für eine kurze Weile stillstand. Die Besucher des Wochenmarktes vor dem Rathaus Schöneberg schauten verdutzt herüber. Es gab keine Nervenzusammenbrüche wie bei der Beerdigung von Lady Di. Es war auch nicht ganz Berlin auf den Beinen. Es waren einfach nur diejenigen ausgeschwärmt, die sich von Marlene Dietrich verabschieden wollten. Und wir waren mittendrin.

Dann verschwand das Gefährt Richtung Friedhof, der Auflauf zerstreute sich, und alles war wieder schrecklich normal. Olaf setzte sich auf meinen Gepäckträger und wir radelten zum Kleistpark, wo sich seit Jahr und Tag das Café »Anderes Ufer« befindet. Entgegen sonstiger Usancen war ein Fernseher aufgestellt und übertrug im Anschluss an die kurze Trauerfeier das Defilee der Einheimischen am Grab. Der gerührte Barkeeper drehte eine von Marlene Dietrichs Chanson-Aufnahmen lauter. Ein Foto an der Wand zeigte sie uniformiert zwischen US-Soldaten im Zweiten Weltkrieg. »Willkommen zu Hause«, sagte Maximilian Schell in der Trauerrede. Wir saßen in Berlins bekanntestem Lesben- und Schwulencafé und fühlten uns, als wäre Marlene Dietrich dabei. Natürlich wussten wir, dass ihr Leichnam ein paar Kilometer entfernt in den brandenburgischen Sandboden hinabgesenkt wurde, aber der Tag hatte eine Aura, in der alles möglich schien. Und wenn wir uns etwas hätten wünschen dürfen, hätte es mit dieser unglaublichen Frau zu tun gehabt.

Der Regisseur Joseph Vilsmaier ist seit Jahren mit Filmen wie »Herbstmilch«, »Stalingrad«, »Schlafes Bruder« und »Comedian Harmonists« erfolgreich im deutschen Mainstream-Kino unterwegs. Seine Arbeiten sind gediegene Unterhaltungskonfektion. Sie polarisieren nicht, provozieren niemanden, sie sind weder richtig schlecht noch richtig gut. Das einzige Maß der Vilsmaierschen Filme ist das Mittelmaß. Sie stehen für den sorgsam ermittelten Durchschnittsgeschmack. Damit fallen sie auch. Zu sehen am Beispiel von »Marlene«, einer der teuersten Produktionen hierzulande, und trotz des Budgets von 17,8 Millionen zur Billigware geraten. Der Film hat eine blank geschrubbte, sterile Oberfläche und kein bisschen Lebendigkeit.

An der Hauptdarstellerin Katja Flint liegt das nicht. Sie schlüpft geschickt wie sympathisch in die Roben und Posen des Originals. Dass ihr dessen Kleider ein paar Nummern zu groß sein würden, war absehbar. Gegen die Banalität des Drehbuchs, die Seichtheit der Szenen wie Dialoge und gegen die abgeschleckten Postkartenbilder hat die Siegerin im Marlene-Dietrich-Imitations-Wettbewerb natürlich keine Chance. Von Katja Flint wurde nur verlangt, Marlene Dietrich möglichst blond zu ähneln, was ihr zumindest in den Weitwinkel-Einstellungen auch gelingt. Andere ästhetische Ambitionen verfolgt Vilsmaier nicht, obwohl er es mit der wahrlich aufregenden Biografie einer der bedeutendsten Schauspielerinnen des 20. Jahrhunderts zu tun hat. Er kopiert daraus, was das Zeug hält, und hat nichts weiter als das übliche Reich-aber-unglücklich-Stereotyp anzufügen.

Von der Kunst der Dietrich und wie es ihr gelang, im Schlangennest Hollywood zu bestehen, gar zur umjubelten Projektionsfigur für die Sehnsüchte eines Millionenpublikums und damit unsterblich zu werden, vermittelt sich nichts. Aber auch nichts von der Privatperson, die so klischeehaft gezeichnet wird wie direkt aus dem Vorabendprogramm. Einsam sitzt die Dietrich mit Schnaps und Tabletten in ihrem prunkvollen Schlafzimmer, besucht entsetzt ein Kino, wo einer ihrer so genannten Kassengift-Filme vor fast leerem Auditorium läuft, kämpft mit ihrem Lieblingsregisseur Josef von Sternberg, zertrümmert eine Fensterscheibe, gurrt und mault - aber sie tut dies immer mit stupider Eindimensionalität.

Die Figur hat schöne Kostüme, aber keine Seele. Der Reiz am Spiel, die Energie der Sinnlichkeit, die Verfehlungen und Verführungen, die gefährdete Position im Rampenlicht, all der Ernst und die Wahrhaftigkeit, mit der die Tochter eines preußischen Offiziers ihre Arbeit tat, verflachen zu bunten, langweilig ausgeleuchteten Tableaus. Dabei war gerade die Dietrich berühmt für ihre Kenntnisse von der Wirkung richtig eingesetzter Scheinwerfer: »Am wichtigsten ist das key light, das Grundlicht, direkt hinter der Kamera. Je höher dieses Grundlicht postiert ist, desto länger und schmaler wirkt das Gesicht auf der Leinwand. Und wenn eine Schauspielerin mit hohen Wangenknochen gesegnet ist, zeichnet diese Beleuchtung attraktive, weiche Schatten auf beide Wangen.« Genau so inszenierte sich die »stählerne Orchidee« (Erich Maria Remarque) dann auch bei ihren Auftritten als Diseuse wie eine entrückte, unberührbare Kunstfigur.

Man kann nicht sagen, dass Vilsmaier in »Marlene« alles falsch macht. Er macht nur nichts richtig. In der Manier eines braven Musterschülers reiht er die emsig aufgestöberten Legenden aneinander, ohne dass sich daraus ein fesselnder Erzählstrang ergäbe: Von der schnippischen Berliner Göre bis zur oft aushäusigen Rabenmutter, von den gezogenen Backenzähnen, um die Gesichtsform zu korrigieren, bis zu den zahllosen Affären mit Frauen und Männern.

Seine stärkste Szene hat der Film am Schluss, wenn er endgültig zur technischen Reproduktion verkommt. Katja Flint steht mit dem berühmten weißen Konzert-Pelzmantel der Dietrich in der New Yorker Carnegie Hall. Dazu erklingt deren unwiderstehliche Interpretation von »Sag mir, wo die Blumen sind«. Während die Kamera zurückfährt, scheint sich die Darstellerin tatsächlich in Marlene Dietrich zu verwandeln, weil nur noch der Mantel zu sehen ist und ihr Gesicht im Dunkel verschwindet. Die Täuschung ist perfekt, und der Film hat sein Gesicht endgültig verloren.

Im August 1997 gab die deutsche Bundespost für den so genannten Standardbrief in der Leichtgewichtklasse bis 20 Gramm eine neue Briefmarke über 1,10 Mark heraus. Sie zeigt bis heute das Porträt Marlene Dietrichs und hat mit ihr ebenso viel zu tun wie Vilsmaiers Film - nur dass der nicht so nützlich ist.

»Marlene«, D 1999. R: Joseph Vilsmaier. D: Katja Flint, Herbert Knaup, Christiane Paul, Heino Ferch. Start: 9. März