»Schiri: Telefon«

Einer geht noch, einer geht noch raus

Sie zeigen die größte körperliche Leistung auf dem Fußballplatz, werden am schlechtesten bezahlt und am meisten gehasst: Schiedsrichter.

Unter denjenigen, die sich an den Wochenenden regelmäßig in Fußball-Stadien versammeln, gibt es eine Gruppe, die zwar häufig in den Medien präsent ist, über die jedoch kaum etwas bekannt ist. Denn während man fast alles über Spieler, Trainer und den Vorstand weiß, und das Verhalten der verschiedenen Fan-Kategorien bis ins Detail erforscht ist, ist beim Schiedsrichter eigentlich bloß klar, dass er die schwarze Sau ist, die bösartig nur Mist zusammenpfeift.

Über die Anfänge der Schiedsrichterei liegt entsprechend wenig Material vor, obwohl sie schon recht früh erstmals urkundlich erwähnt wurde: Bereits 1581 erschien die »Positions« betitelte Stellungnahme des englischen Schuldirektors Richard Mulcasters zum seit 1314 immer wieder durch offizielle Erlasse verbotenen Fußballspiel, in der der Pädagoge erklärte, ein so beliebtes Spiel könne nicht ganz schlecht sein. Wenn es »angeleitet durchgeführt« werde und klare Regeln geschaffen sowie ein Schiedsrichter eingeführt werden würden, dann habe es sogar gute Chancen, »zu einer sinnvollen Leibesübung zu werden«.

Bis dahin sollte es allerdings noch lange dauern, erst im Jahr 1848 wurden in Cambridge zum ersten Mal »allgemeine« Fußballregeln verfasst. Und 26 Jahre später wurde im englischen Fußball-Regelwerk zum ersten Mal verbindlich der Schiedsrichter eingeführt - dessen Job am Anfang wohl relativ folgenlos war, erst drei Jahre später wurden die Machtbefugnisse deutlich erweitert, zum ersten Mal erhielt er das Recht, Platzverweise zu erteilen. Zu dieser Zeit kam es bei der Regeldurchsetzung sicherlich besonders auf die Stimmbänder der Referees an, denn erst 1878 wurde, in Nottingham, zum ersten Mal eine Schiedsrichterpfeife verwendet.

Wahrscheinlich war der Schiedsrichter aber schon damals die meistgehasste Person auf dem Platz, denn an der Niederlage des Lieblingsclubs waren auch da ganz sicher nicht die Spieler oder die dumme Taktik oder das ineffiziente Training schuld.

Für 78 821 Männer und Frauen (1995 war mit Gertrude Gebhardt zum ersten Mal eine Frau in der Ersten Liga Linienrichterin) in Deutschland gehören die entsprechenden Anfeindungen an jedem Wochenende dazu. Manchmal müssen sie nach dem Abpfiff ziemlich schnell rennen, denn besonders in den unteren Spielklassen legen die Aktiven großen Wert darauf, dem Schiedsrichter-Team noch mal kurz zu erklären, was man von ihm hält. Den Berlinern Michael Lehmann, Manfred Schmickartz und Eleferios Katsaros macht ihr Engagement trotzdem Spaß, und sie erklären auch bereitwillig, was Schiedsrichter nach dem Duschen tun. »Wir gehen immer noch zusammen ein Bier trinken«, sagt Lehmann. Nicht in irgendeiner Kneipe, sondern nach Möglichkeit in der des gastgebenden Vereins. »Es ist nämlich wichtig, den Spielern die Möglichkeit zu geben nachzufragen. Man muss mit den Leuten reden, denn die Regeln sind doch nicht so bekannt, und nach einem Spiel ist das dann eine gute Gelegenheit, in aller Ruhe Dinge zu erklären!«

Zwischen acht (Schülerspiel) und 300 Mark (Regionalliga) erhält so ein Schiedsrichter, der es nicht in die Profiliga geschafft hat. Zuvor hat er, je nach Landesverband, einen bis zu fünfzigstündigen DFB-Lehrgang mit abschließender Prüfung absolviert und erklärt, zu mindestens 20 Spielleitungen und mindestens acht Tage Fortbildung pro Jahr bereit zu sein.

In der Ersten Liga dagegen haben die Schiedsrichter von der fortschreitenden Kommerzialisierung wenigstens ein bisschen profitieren können. Die Zeiten, als z.B. der Hamburger Gerhard Schulenburg Anfang der Siebziger das Pfeifen eines Mittwochs-Spiels wegen beruflicher Überlastung verweigerte, sind längst passé - 4 000 Mark erhalten die Referees heute für ihre Dienstleistung. Wenn sie nicht aufpassen, dann kann es jedoch mit dem Nebenverdienst auch schnell wieder vorbei sein, denn bei jedem Match sitzt ein Schiedsrichter-Beobachter auf der Tribüne, der minutiös über die gebotenen Leistungen Buch führt und sie anschließend bewertet.

»Ich glaube nicht, dass ich dazu geeignet wäre. Wenn schon Schiedsrichter, dann nur mit meiner Methode. Ich würde mir keinen Beobachter auf der Tribüne gefallen lassen«, erklärt dazu Trainer Winnie Schäfer. Und auch in Schiedsrichter-Kreisen gilt es als mindestens umstritten, ob das Urteil auch immer wirklich mit der nötigen Objektivität ausfällt. Im gerade erschienenen Buch »Schiri: Telefon« von Gotthard Dikty wird z.B. die Geschichte des Kölners Paul Kindervater erzählt. »Dieses Systems ist ein reines Glücksspiel. Da wird eine Wertung aufgrund eines umfangreichen Fragekataloges vorgenommen, die doch recht subjektiv bleiben muss. Die Beobachter haben unter Umständen Vorurteile, die sie in ihrer Analyse beeinflussen«, erläuterte Kindervater 1979 das Motiv seines freiwilligen Rückzugs aus der Schiedsrichterei. Die von ihm damals aufgestellten Forderungen - u.a. zwei unabhängig voneinander urteilende Beobachter, die selber auch gepfiffen haben müssen sowie ein Mitspracherecht der Vereine - wurden jedoch niemals ernsthaft diskutiert.

Und seither ist der Druck auf die Referees eher noch größer geworden. »Der Schiedsrichter ist Polizist, Aufpasser, Richter, Staatsanwalt und Vollzugsbeamter in einem«, meint Dieter Pauly, der als erster deutscher Schiedsrichter im Jahr 1990 ein eigenes Abschiedsspiel bekam und während seiner aktiven Zeit Ärger mit dem DFB hatte, weil Pauly sich Autogrammkarten drucken ließ. Den Vorwurf, die Schiris seien durch die Bank selbstherrliche Korinthenkacker, die Spieler sogar bewusst provozieren würden, lässt er nicht gelten. Zumal sogar Offizielle finden, dass die Schiedsrichter sich ziemlich anstellen würden - einem, der nach einer heftigen körperlichen Attacke durch einen Spieler bei der folgenden Bezirks-Sportgerichtsverhandlung fragte, wer denn die Referees schütze, erhielt die Antwort: »Wenn Sie so empfindlich sind, sollten Sie aufhören, Schiedsrichter zu sein!« Pauly hält dagegen: »Nur zwölf Prozent aller Gelben Karten werden wegen so genannter Unsportlichkeiten gezeigt, das sind also Ballwegwerfen oder Beleidigung des Schiedsrichters. 88 Prozent der Verwarnungen sprechen wir wegen Foulspiels aus - das zeigt doch, dass wir über Vieles hinweghören.« Wie Heinz Aldinger, der irgendwann in den Siebzigern Wolfgang Overaths Vorwurf: »Du hast wohl grade deine schwachen zehn Minuten« nicht mit Gelb ahndete, sondern verbal konterte: »Und du, Overathle, spielst schon seit 70 Minuten Scheißdreck!«

»Wenn es möglich ist, möchte ich auch wieder mit 22 Mann vom Platz gehen«, stimmt Pauly auch Kollege Markus Merk (»Als Schiedsrichter mag mich keiner, als Zahnarzt auch nicht. Das ist wahrscheinlich eine Perversion, wenn man nicht nur Zahnarzt, sondern auch Schiedsrichter ist«) zu. Manchmal geht das jedoch nicht. 1966 waren z.B. vier Platzverweise während eines Spiels durch den Referee Horst Herden ausgesprochen worden, ein Rekord, der nach Meinung Vieler für die Ewigkeit gelten sollte.

Am 22. August 1992 wurde er jedoch gebrochen. Beim Spiel von Borussia Dortmund gegen Dynamo Dresden verteilte Schiedsrichter Martin Schmidt fünf Rote Karten, »einer geht noch, einer geht noch raus«, sangen die wütenden Fans, während die Trainer geschlossen in ihm »eine Gefahr für die Bundesliga« sahen. »Ich hätte auch acht Spieler runtergestellt«, verteidigte sich Schmidt und machte mit seiner Familie erst einmal Urlaub von den zahlreichen Morddrohungen und Negativ-Schlagzeilen. Als er Wochen danach wieder sein erstes Bundesliga-Spiel pfiff, baute Sat.1 eine Kamera auf, die nur ihn beobachtete, der Druck auf Schmidt muss extrem gewesen sein. Trotzdem machte er weiter.

Es ist ein System, das Schiedsrichter eher als notwendiges Übel denn als Sicherheitseinrichtung für die Aktiven betrachtet. »Für mich ist es oberstes Gebot, die Gesundheit der Spieler zu schützen«, erklärt beispielsweise Manfred Amerell, »wo ich pfeife, haben Treter nichts zu suchen.« Damit bestätigt der Schiri ungewollt eine wissenschaftliche Untersuchung, der zufolge Schiedsrichter den größten Stress nicht etwa dann empfinden, wenn sie von den Fans beschimpft und ausgepfiffen werden, sondern dann, wenn ein Spieler von einem anderen schwer verletzt wurde und sie daneben stehen müssen, ohne irgendetwas tun zu können. »Die brutalsten Fouls - und das ist schon fast pervers - sieht man meist dort, wo eigentlich nichts passieren kann: im Bereich der Eckfahne.« Den Vorwurf, in der Bundesliga würde härter gepfiffen als im Ausland, können Amerell und Kollegen da schon nicht mehr hören: »Internationale Härte heißt aus meinem Blickwinkel: Die Rücksichtslosigkeit hat Hochkonjunktur. Wenn wir im Bundesliga-Alltag so pfeifen würden, dann hätte das Rote Kreuz an jedem Samstag Urlaubssperre. Wer den anderen in die Knochen tritt, fliegt raus.«

Was jedoch nicht nur bei den Fans, sondern auch bei den Sportreportern wieder zu Ärger führt, denn auch die meisten Journalisten tun sich nicht durch besondere Regelkenntnisse hervor. Amerell verschickte, wenn er sich »besonders in die Pfanne gehauen« fühlte, während seiner aktiven Zeit Regelbücher, in denen die aktuellen Passagen dick unterstrichen waren. »Fünf bis sechs Mal pro Saison - meistens ans Fernsehen.«

Kein Wunder, dass sich Schiedsrichter oft als die einzigen Profis im Fußball verstehen. Obwohl sie, nach den Maßstäben der Branche, erbärmlich dafür bezahlt werden, dass sie während eines Spiels die größte körperliche Leistung aller Akteure auf dem Platz zeigen müssen und sich mental keine Aussetzer erlauben dürfen. Die angemessene Entlohnung steht zwar noch aus, aber Manfred Amerell hat schon genaue Vorstellungen, was seine Nachfolger irgendwann einmal erwarten dürfen: »Zwischen 150 000 und 200 000 Mark pro Jahr, plus eine Abfindung für die Zeit danach.«

Gotthard Dikty: Schiri: Telefon. Academia-Verlag, Sankt Augustin 1999, 330 S., DM 24,80