»Gier« von Sarah Kane

Keiner liebt mich

Schockdramatik von Sarah Kane im Schwitzkasten der Bedeutsamkeit. Thomas Ostermeier lässt »Gier« lesen.

Was kann bei einem Stück herauskommen, das sich auf Sätze stützt wie »Nur Liebe kann mich retten, und Liebe hat mich zerstört« oder »Keiner überlebt das Leben»? Was kann bei einer Inszenierung herauskommen, die jedes dieser Worte in den Schwitzkasten hochangestrengter Bedeutsamkeit nimmt, bis es völlig platt ist? Die sämtliche Darsteller weit voneinander isoliert, zu minimalen Bewegungen verurteilt und nur kräftig auf die Tränendrüse drücken lässt?

Natürlich nicht sehr viel und auch das Wenige hätte zum Beispiel in Posemuckel niemanden interessiert. Da sich das triste Unterfangen jedoch in Berlin und an der Schaubühne zuträgt, da es sich hierbei ferner um die deutschsprachige Erstaufführung von Sarah Kanes letztem Stück »Gier« und um eine angekündigte Inszenierung von Thomas Ostermeier handelt, geht es gleich um die Zukunft des deutschen Theaters, Rubrik Jugend und Sport.

Denn seit Herbst heißt die legendäre Schaubühne am Lehniner Platz in der Propagandasprache der Medien die »neue« Schaubühne. Wie das »neue« Berlin. Oder die »neue« Mitte. Das Theater am unteren Kurfürstendamm jedenfalls ist von außen nach wie vor unverändert. Auch innen scheint es, abgesehen vom vergrößerten Café-Bereich, vertraut wie ehedem, als Otto Sander und Edith Clever, Bruno Ganz und Jutta Lampe, als Peter Stein, Luc Bondy, Klaus Michael Grüber, Andrea Breth, Robert Wilson und wie sie alle heißen, hier schalteten und walteten.

Wirklich neu ist nur der künstlerische Leiter Thomas Ostermeier, er bekam nach dem Regie-Diplom prompt die Baracke, die Experimentierbühne des Deutschen Theaters, zum Spielen. Dort inszenierte er buchstabengetreu und naturalistisch eine Handvoll britischer, so genannter wilder Dramen jüngerer Autoren, mit denen er ins Herz eines ebenfalls jüngeren, so genannten wilden Publikums traf. Die Leute auf der Bühne sahen nicht viel anders aus als die draußen an der Kasse. Und in dem kleinen Raum mit etwa hundert Plätzen kamen einander alle, wenn schon nicht psychisch, so doch physisch ziemlich nahe. Man konnte sich wohl fühlen, verstanden und wichtig. Allabendlich war der Laden voll. Das sprach sich herum, und heute leitet Ostermeier mit der Choreografin Sasha Waltz sowie den Dramaturgen Jens Hillje und Jochen Sandig die Schaubühne.

Nach wie vor zeigt Ostermeier schmalspurige Sozialschmonzetten, die Schauspieler sind nicht besser geworden, seine Inszenierungen bescheidenes Mittelmaß geblieben. Aber auch hier ist das Haus voll und das Publikum gebannt. Das Interessanteste am Phänomen Ostermeier ist gewiss, wie er das schafft und welche Zuschauerbedürfnisse er damit stillt. Vielleicht ist der Erfolg seiner Schaubude der ästhetische Durchbruch des »Big Brother»-Effekts auf der Sprechbühne. Denn hier werden keine Fragen gestellt und keine Antworten gegeben, keine Großartigkeiten heruntergespielt und keine Hoffnungen aufgebaut, bloß ein paar eher deprimierende, naturgetreue, nahe am Alltagskitsch gebaute Realitätsabbildungen dargeboten.

Würdig in den an der Baracke entwickelten Spielplan aus Sex, Crime & Nonsense passt nun auch »Gier« (»Crave«). Die Dramatikerin Sarah Kane galt der britischen Presse bald als »Rape-Play-Girl« und »Sex and Sodomy Kid«. Mit 28 Jahren nahm sie sich im Februar 1999 das Leben. Wie in ihrem restlichen, schmalen Îuvre passiert auch in »Gier« kaum etwas, doch wird dies Quäntchen, entgegen Kanes sonstigen Gepflogenheiten, hier nicht mit schockierenden Brutalitäten angereichert.

Kane hatte ein nettes englisches Jungmädchengesicht und eine viel weniger nette Phantasie: Im Namen der Liebe, die sich unter all der gezeigten Gewalt verborgen haben soll, wurden Augäpfel ausgestochen, Körperteile abgeschnitten, erstaunliche Formen von Misshandlungen und Torturen ausgeführt. Frei von solchem Skandal-Rüstzeug allerdings zeigt sich »Gier« nun bloß als pubertär durchgeknalltes Weltschmerz-Quartett, Marke »Keiner liebt mich«.

Die vier Darsteller - zwei Frauen und zwei Männer - haben keine Namen, sondern tragen nur die Buchstaben A, B, C, M. In der Schaubühne steht jeder von ihnen auf seinem eigenen schwarzen Podest, hinter sich einen Stuhl, vor sich ein Mikrofon (Bühne: Rufus Didwiszus). Während der halbszenischen, kümmerlichen Lesung - denn von einer Inszenierung kann hier keineswegs die Rede sein - haben Cristin König, Michaela Steiger, Falk Rockstroh und Thomas Dannemann fast nichts zu tun. Meistens schauen sie sehr betroffen geradeaus. Sie legen ein Kleidungsstück ab, dann wieder an. Sie fummeln an den Mikrofonen herum. Sie setzen sich. Sie stehen auf. Sie schweigen. Sie stammeln sich in kurzen, unverbundenen Sätzen durch ihr derangiertes Gefühlsleben, ohne miteinander in Verbindung zu treten. Würden sie tatsächlich zusammen treffen, ihr Kummer müsste sie sofort vor Lachen tot umfallen lassen, denn was sie so von sich geben, ist banal und in der Anhäufung nicht interessanter.

Das Ganze ist ein öder, anmaßender Witz, dessen Pointe nach zehn Minuten klar ist, obwohl er dann mehr als achtmal so lange dauert. Ostermeiers statisches Figuren-Arrangement entrückt die vier Schmerzensgestalten zudem

in denkmalsartige Höhe, aus der die Dürftigkeit ihrer Wortmeldungen besonders peinlich vernehmbar wird. »Scheiß auf dieses Leben« heißt es da, oder »Ich bin so einsam« oder »Ich spüre nichts«.

Gelegentlich unterbrechen ansteigende, schwer dräuende Musikwogen das klägliche Geschehen. Dann verharren die Schauspieler in müder Reglosigkeit, während die Podeste durchsichtig werden und nackte Puppen hinter Glas erscheinen, die so traurig aussehen wie Föten im Reagenzglas. Sie winken bloß matt, was angesichts der Tristesse, die sich über ihren Köpfen abspielt, nicht weiter erstaunt. Auf die Idee, dass es sich bei der Gier um eine gewaltige, dynamische Emotion handelt, käme hier niemand.

Die deutsche Übersetzung lieferte Marius von Mayenburg, der sich in Sarah Kanes Sommerkursen im Stückeschreiben fortbildete. Nach dem Selbstmord der Autorin warnte er davor, die biografischen Bezüge als direkten Schlüssel zu ihren Texte zu nehmen: »Macht sie nicht zur Lady Di der Intellektuellen, lasst sie in Ruhe.«

So viel Pietät hat Thomas Ostermeier vermutlich endgültig den Schneid abgekauft. Ohne jede Interpretation, nur pathetisch aufgeblasen, kommt »Gier« jetzt erst recht wie ein aufgemotztes Requiem daher: mit einem imaginären »Ruhe in Frieden« schon vor dem Beginn und nichts als Flugasche hinterher.

Am Premierenabend ist die Berliner Kultursenatorin Christa Thoben von ihrem Amt zurückgetreten und der Schaubühne fern geblieben. Allerdings besteht kein Grund zu der Annahme, dass sie sich, wäre sie gekommen, anders entschieden hätte - eher erst recht: fürs Davonlaufen.

Sarah Kane: »Gier«. R: Thomas Ostermeier. Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin. Weitere Aufführungen am 18., 19., 20., 21.April