Atom-Müll und Anti-AKW-Bewegung

Tödliches Auslaufmodell

Mit Castor-Blockaden reagiert die Anti-AKW-Bewegung auf die Entwicklung des Energiesektors: Die Betreiber setzen längst nicht mehr auf neue Meiler.

Schenkt man den wortgewaltigen Statements Jürgen Trittins Glauben, so steht spätestens seit Mitte März fest: Am Ende der Verhandlungen mit der Atom-Industrie wird das definitive Aus für die gefährliche Energie stehen - im Konsens oder im Dissens mit den Betreibern. Als drohte in einer allein von der SPD oder der CDU gestellten Regierung geradezu ein Bauboom neuer Atom-Reaktoren, erklärte der grüne Umweltminister seine Partei auf der Karlsruher Bundesdelegiertenkonferenz kurzerhand zur einzigen »Atomausstiegspartei«, um sich ganz nebenbei grünes Licht für lange Restlaufzeiten zu sichern.

Tatsächlich ist in der Bundesrepublik seit zwölf Jahren kein neues AKW mehr ans Netz gegangen. Die Planungs- und Bauphase mitgerechnet, hat die Atomwirtschaft schon Anfang der achtziger Jahre den Aufbau zusätzlicher Kapazitäten de facto eingestellt. Auch im globalen Maßstab sind die gigantischen Zukunftsvisionen von einst nicht annähernd umgesetzt worden. Nicht nur der atomgetriebene Rasenmäher, von dem in den fünfziger Jahren fortschrittsbesessene Ingenieure allen Ernstes träumten, rollte nie vom Band. Der Anteil der Atom-Wirtschaft an der weltweiten Primärenergie-Erzeugung hat seinen höchsten Stand in den achtziger Jahren erreicht und ist seitdem rückläufig.

Dafür, dass das Atom-Programm nur in einer deutlich abgespeckten Version Wirklichkeit wurde, sind auch die Erfolge der Anti-AKW-Bewegung nur zu einem geringem Teil verantwortlich. In erster Linie haben sich die Planungsgrundlagen, die einst den zügigen Ausbau der Atomenergie-Nutzung attraktiv erscheinen ließen, als gegenstandslos erwiesen.

Die Atomenergie-Propagandisten hatten die Wachstumsziffern der Wirtschaftswunder-Ära einfach extrapoliert und dementsprechend einen steilen Anstieg des Primärenergie-Verbrauchs in den Metropolen prognostiziert. Tatsächlich indes flachten die Zuwachsraten deutlich ab. Angesichts der Öl-Preisschocks waren die Planer zudem von einem ebenso dauerhaften wie nachhaltigen Anstieg der Preise fossiler Brennstoffe ausgegangen.

In Wirklichkeit kam es bei den konkurrierenden Energieträgern aber zu einem Preisverfall. Das Barrel Rohöl war 1978 wie 1998 auf den Spotmärkten für 15 Dollar zu haben, und das trotz allgemeiner Teuerung. Unter diesen Bedingungen fiel das große betriebswirtschaftliche Plus der Atom-Energie - die geringen Kosten für den laufenden Betrieb - nicht so stark ins Gewicht.

Den ursprünglichen Planungen der Atomlobby lag die Vision einer mega-industriekapitalistischen Zukunft zu Grunde. Dieser Traum ist in der Zwischenzeit geplatzt. Das Atom-Programm ist überhaupt nur aus der Perspektive des Spätfordismus verständlich. Die Atomenergie hat die strategische Option eröffnet, zur Befriedigung der akuten warengesellschaftlichen Energiesucht nicht nur die fossile Vergangenheit zu verheizen, sondern auch noch den indirekten Verbrauch der Zukunft heranzuziehen, indem man die Folgelasten der heutigen Energie-Erzeugung künftigen Generationen aufhalst.

Wenn dies für das Funktionieren der Gesellschaft nur ein Randphänomen blieb, ohne dass das Nachlassen der Realakkumulation in den kapitalistischen Zentren einen akuten Krisenschub auslöste, dann hat das allein einen Grund: Das Kapital hat nach dem Ende des fordistischen Booms eine elegantere Methode entwickelt, sich durch das »Anzapfen der Zukunft« einstweilen über die Runden zu retten.

Im kasinokapitalistischen Zeitalter erlaubt es der über die Dynamik des fiktiven Kapitals vermittelte Vorgriff auf die Vernutzung künftiger Arbeit der kapitalistischen Maschine, auch bei insgesamt stockender industrieller Realakkumulation auf Touren zu bleiben. Die Ausdehnung der sekundären, am Ende durch Kredit und Verschuldung gespeisten Kapital-Kreisläufe eröffnete die illusionäre Perspektive eines blühenden Dienstleistungskapitalismus, der nicht zwangsläufig mit einem exponentiellen Wachstum des Energieverbrauchs einhergeht.

Die Atom-Energie wurde von ihren Propagandisten stets als eine besonders wirtschaftliche Form der Energiegewinnung verkauft. Die Gegner der Atom-Industrie haben das gern in Abrede gestellt: Würden alle Vor- und Folgekosten der so genannten friedlichen Nutzung mit ins Kalkül einbezogen, müsste sich die Atom-Energie als extrem teuer und hochgradig unwirtschaftlich erweisen.

So richtig es ist, die Kostenexternalisierung zum Thema zu machen, so gründlich führt es in die Irre, das ausgerechnet im Namen einer eigentlichen Wirtschaftlichkeit zu tun. Der Clou an einer indirekten, über den Wert vermittelten Form von Gesellschaftlichkeit besteht gerade darin, dass sie irgendeiner von den betriebswirtschaftlichen Einzelsubjekten abgelösten Gesamt-Kosten-Nutzen-Rechnung ex definitione gar keine Geltung zusprechen kann. Wirtschaftlichkeit beruht immer auf der Verschiebung von Lasten.

Die Kostenexternalisierung ist nicht wirtschaftlich irrational, sie ist vielmehr Ausdruck der grundsätzlichen Irrationalität der wirtschaftlichen Rationalität. Die Atom-Energie nimmt in dieser Hinsicht keineswegs eine Sonderstellung ein, sie verkörpert nur in einem extremen Grad ein allgemeines Grundprinzip der herrschenden Ordnung.

Das gilt zunächst einmal für die Seite der Vorkosten. Die »friedliche Nutzung der Kernenergie« wurde überhaupt nur deshalb je ins Auge gefasst, weil die Protagonisten mehr oder minder kostenlos auf die im Rahmen des Wettrüstens geleistete und vom Staat finanzierte Grundlagenforschung und auf die in diesem Zusammenhang entwickelten Schlüsseltechnologien zurückgreifen konnten. Ohne den Kraftakt des »Manhattan-Projects« wäre Stromerzeugung durch Kernspaltung eine futuristische Vorstellung geblieben.

Auch die Fortentwicklung der Atom-Energie beruhte auf der Bereitschaft staatlicher Stellen, das Gros der Vorauskosten als Teil der allgemeinen staatlichen Infrastrukurinvestitionen zu übernehmen. Nachdem all diese Leistungen aber nun einmal schon erbracht waren, lag es nur in der Logik, das einzige Pfund, mit dem die Atom-Energie wuchern kann - die niedrigen Kosten im laufenden Betrieb -, auch tatsächlich ins Spiel zu bringen. Entsorgungskosten wiederum, die in irgendeiner fernen Zukunft anfallen - und fern kann schon zwei, drei Jahrzehnte bedeuten -, gibt es vom betriebswirtschaftlich-volkswirtschaftlichen Standpunkt nicht.

Die Errichtung neuer AKW wird dort rentabel, wo die Summe aus Betriebs-, Baukosten und unmittelbaren Lagerkosten für den anfallenden Atom-Müll niedriger liegt als die entsprechenden Kosten konventioneller Kraftwerke. Das war in den letzten 20 Jahren nicht der Fall. Die Schwelle, ab der es sich rentiert, einen bereits laufenden Atom-Meiler am Netz zu halten, liegt allerdings deutlich niedriger. Weil Baukosten nun einmal bereits verausgabt sind und ein Gutteil der »Entsorgungskosten« auch nach dem Abschalten weiter anfällt, ist es vom Rentabilitätsstandpunkt aus gesehen eigentlich immer unverantwortlich, ein AKW abzuschalten. Ein groß angelegter AKW-Boom ist auch künftig kaum zu erwarten. Sicher ist aber, dass die Betreiber und ihre politischen Lautsprecher den vorhandenen Bestand zäh verteidigen werden und noch recht phantastische Vorstellungen entwickeln dürften, wie lange und unter welchen Bedingungen »bewährte Meiler« weiter produzieren sollen.

Die politische Ökonomie der Atomenergie-Nutzung unterscheidet sich von der fast aller anderen kapitalistischen Fertigungszweige nicht nur durch den extrem hohen fixen Kapitalteil. Endprodukte, aber auch Produktionsmittel unterliegen normalerweise dem, was Marx als »moralischen Verschleiß« bezeichnet. Lange bevor Maschinen ihre technische Funktionsfähigkeit eingebüßt haben, verlieren sie ihre technische Konkurrenzfähigkeit und müssen durch neue, produktivere ersetzt werden. Lange bevor Produkte ihren Dienst versagen, sind sie durch das Auftreten neuer konkurrierender Waren entwertet und werden ausrangiert. Die Atom-Industrie ist diesem Prozess enthoben, ja er verkehrt sich bei ihr ins genaue Gegenteil. Ihr Erzeugnis, der Strom, veraltet nicht, und je länger ein Kraftwerk betrieben wird, desto rentabler und wettbewerbsfähiger wird es.

Technische Standards bei Atom-Anlagen sind im Kern Sicherheitsstandards. Sicherheitsstandards enthalten ein »kulturell-moralisches Moment«. Sie lassen sich so oder so definieren. Gerade im Zeichen totaler Ökonomisierung bietet sich reichlich Gelegenheit, eine neue »Risikokultur« zu installieren und sich über das alte, verknöcherte Sicherheitsdenken hinwegzusetzen. Der ökonomische Imperativ ist klar: Vorhandene Atom-Anlagen haben sich nicht nur zu amortisieren, sie müssen sich überamortisieren. In diesem Kontext gewinnt der Begriff der Amortisation seine wortwörtliche lateinische Bedeutung (admortire = zu Tode bringen) zurück. Die Anlagen werden bis zu ihrem Tode, und nicht nur ihrem eigenen, weiter betrieben. Alles andere wäre vom warengesellschaftlichen Standpunkt aus Verschwendung. Gerade als Auslaufmodell entfaltet die Atomenergie ihr ganzes Gefahrenpotenzial.

Dem Umstand, dass mittlerweile nicht der Ausbau des Atom-Programms das Problem ist, sondern die Fortsetzung des laufenden Betriebs, trägt die Anti-AKW-Bewegung natürlich auf ihre Weise Rechnung. Die Zeit der Platzbesetzungen ist lange vorbei. Der Widerstand entzündet sich heute vornehmlich an der Transport- und Entsorgungsfrage. Die Blockade der Castor-Züge ordnet sich in eine »Erstickungsstrategie« ein. Die selbst erzeugten Abfallmassen sollen das Atom-Programm unter sich begraben. Der nicht zu erbringende Entsorgungsnachweis wird zum Hebel, um die Zwangsabschaltung zu erreichen.

Es ist heute bereits absehbar, auf welchem Weg die Atom-Lobby versuchen wird, sich aus dieser Klemme zu befreien. Globales Umweltdumping und geografische Externalisierung sind gerade in Sachen Entsorgung angesagt. Die deutschen Brennelemente, die zur Repatriierung aus La Hague und Sellafield zurückgeschickt werden, dürften früher oder später quer durch Europa zu ihrem endgültigen Bestimmungsort, der größten Atom-Müllkippe der Welt rollen: ins sibirische Krasnojarsk. Der russische Atom-Minister Jewgeni Adamov strebt bereits an, sein Land als Anbieter auf dem »Dienstleistungsmarkt für abgebrannte Brennelemente zu etablieren«. Er will vor allem in solchen Ländern »aggressiv« für Atom-Müllexporte werben, »die in der Lage sind, für die Entsorgung von einem Kilogramm abgebrannter Brennelemente 1 000 Dollar zu bezahlen«. Dieses freundliche Angebot aus dem Reich chronischer Devisenknappheit dürfte kaum ungehört verhallen.

Wie die rot-grüne Koalition sich zu solchen Lösungen stellen dürfte, liegt auf der Hand: Sie wird sie freudig mittragen. Die Fusion von westlicher und russischer Atom-Mafia lässt sich als wesentlicher Beitrag zur Hebung der Sicherheitsstandards im Osten verkaufen, und ansonsten kann man ja klammheimlich darauf setzen, dass Deutschland in einer Westwindzone liegt und Krasnojarsk viel weiter von Berlin entfernt ist als Tschernobyl. Beim Atom-Programm handelt es sich eben um Auslaufmodell ganz eigener Art, und das erfordert nach Möglichkeit die Einhaltung eines gewissen Sicherheitsabstandes.