Russland nach den Wahlen

Zar und Zimmermann

Bis Mai verzichtet Putin auf eine neue Regierung in Russland. Dafür soll ihm der Ex-Privatisierungsminister Gref ein ökonomisches Programm basteln.

Wie bitte? Putin soll nun auch noch zum Zaren ernannt werden?! Aber nein - der Spruch auf einem selbst gemalten Plakat ist ein Aprilscherz anlässlich einer Politaktion, die am vergangenen Samstag in Moskau stattfand. Ohnehin muss sich der neu gewählte Präsident erst in sein neues Amt einfinden, schließlich liegt sein Wahlsieg gerade mal eine gute Woche zurück.

Es war kein glorreicher, kein triumphaler Sieg - ganz im Gegenteil: ein auf einem äußerst sorgfältigen und konsequent in die Tat umgesetzten Plan basierender, somit wenig überraschender Sieg. Die erreichten 52 Prozent von Putin aber nehmen sich gegenüber den Prognosen vor der Wahl höchst bescheiden aus - immerhin lautete bis dahin die Message des staatlichen Fernsehens, Putin könne mit 60 oder gar bis zu 70 Prozent der Stimmen rechnen.

Eine Woche vor dem Urnengang jedoch gaben die Helfer des ersten Mannes im Staat in den Hauptnachrichten des von Tycoon Boris Beresowski kontrollierten Senders ORT offen zu, dass die Zahlen bewusst zu hoch angesetzt waren. Aufgeschreckt durch die nicht mehr zu übersehenden Antiwahlkampagnen von linker und linksliberaler Seite und in der Befürchtung, die potenziellen Wähler könnten im Glauben, der Interims-Präsident habe den Wahlsieg bereits in der Tasche, ihre Stimme erst gar nicht abgeben, änderte sich die Taktik praktisch über Nacht. Durch Aufbietung aller zur Verfügung stehenden Kräfte konnte ein mögliches Debakel verhindert werden.

Im Übrigen sprachen zahlreiche Experten und die drei »ernst zu nehmenden« Kandidaten, Gennadi Sjuganow von der so genannten Kommunistischen Partei, der Liberale Gregori Jawlinski und der rechtsradikale Wladimir Schirinowski, bereits vor Bekanntwerden der offiziellen Ergebnisse von Wahlbetrug. Sie stützten sich dabei auf nur zu offensichtliche Unregelmäßigkeiten wie das heftige Schwanken der Angaben zur Wahlbeteiligung - 20 Prozent der ausgezählten Stimmen sollen erst kurz vor Wahlende in den Urnen gelandet sein. Die Kritik wurde in den Medien jedoch als typisches Verlierergebaren vom Tisch gewischt, und man darf davon ausgehen, dass eine Prüfung der Vorwürfe gar nicht erst in Betracht kommt.

Um seine Rolle in der Opposition zu unterstreichen, initiierte KP-Chef Sjuganow in den ersten Tagen nach der Wahl in der Duma eine Abstimmung. Das Ziel: Das Verfassungsgericht sollte beauftragt werden, die Rechtmäßigkeit von Putins allererstem Ukas nach Boris Jelzins Rücktritt an Silvester zu überprüfen - mit dem Ukas wollte Putin die Immunität des Ex-Präsidenten garantieren, der in den Sog eines der größten Finanzskandale der russischen Geschichte geraten war. Außer KP und den Agrariern fand sich jedoch nicht eine einzige Fraktion, die das Vorhaben für unterstützenswert erklärte - Jelzins Immunität bleibt unangetastet.

Die Anziehungskraft der präsidialen Macht scheint unwiderstehlich, Konformismus über alle Reihen hinweg ist angesagt. Nicht zuletzt, weil Putin sich auf ideologischer Ebene bei den wichtigsten politischen Strömungen Russlands bedient hat: Von der KP übernahm er den Nationalismus und die Mystifizierung des starken Staates, von Jawlinskis Liberalen und den neurechten Reformern den Gedanken des Kapitalismus als höchstes gesellschaftliches Stadium der Geschichte, und von Schirinowski den aggressiven Rassismus und imperiale Ambitionen.

Nun warten alle gespannt auf die Bildung einer neuen Regierung und die Verkündung eines ökonomischen Programms. Aber erst im Mai soll es soweit sein. Putin erklärte unlängst, er sei nicht gewillt, eine Koalition im herkömmlichen Sinne zu bilden, stattdessen sei für ihn die »Professionalität« der Kandidaten ausschlaggebend. Dadurch gibt er zu verstehen, dass er politische Auseinandersetzungen gar nicht erst aufkommen lassen will und das Wohl des Staates über allem steht.

Als kleiner Vorgeschmack auf Künftiges wurde Ende letzter Woche eine Arbeitsgruppe gegründet, eine Art Parallelregierung auf Probe. Ihr gehören neben Alexander Woloschin, Chef der Kreml-Verwaltung schon unter Jelzin, auch der Erste Vize-Premier Michail Kasjanow - der als möglicher Premier gehandelt wird -, Finanzminister Alexej Kudrin und German Gref an.

Gref leitet das Zentrum für strategische Ausarbeitungen, das in der nobel sanierten ehemaligen Zentrale der bankrott gegangenen Agro-Bank, unweit des Kreml, untergebracht ist. Bei dem Besitzerwechsel blieb für die ihres Vermögens verlustig gegangenen Kunden der Bank keine Kopeke übrig, das Gebäude wurde rechtzeitig einer anderen Firma überschrieben. Die junge Riege um Gref, den 35jährigen »russlanddeutschen« Juristen aus Petersburg und ehemals stellvertretenden Minister für Privatisierung, ist mit einem Mammutprojekt beauftragt: dem Plan zur Runderneuerung der russischen Gesellschaft bis zum Jahr 2015, der mindestens 300 Seiten umfassen soll.

Soweit bekannt, verspricht das Werk einen beschleunigten Übergang zu einer »normalen Marktwirtschaft« und besteht momentan aus einem Sammelsurium unterschiedlichster ökonomischer Ansätze. Klar ist bislang nur eins: Das gewünschte Ziel des Auftraggebers Putin, innerhalb von zwei bis drei Jahren ein zehnprozentiges Wirtschaftswachstum im Land zu erreichen, ist utopisch.

36 feste Mitarbeiter und Hunderte zuarbeitende Wissenschaftler sind mit dem Projekt beschäftigt. Gref selbst hat bislang lediglich einige wenige Punkte öffentlich gemacht, die auf eine weitere Liberalisierung ohne Tabus hindeuten. So soll der Kauf von Grund und Boden ermöglicht werden, der bisher nur in eingeschränkter Form erlaubt ist - für Baugrundstücke. Zudem ist eine Vereinfachung des Steuerwesens geplant. Russische Banken müssen im Produktionssektor investieren, lautet eine der Weisheiten der ehrgeizigen Aufsteiger - wie das vonstatten gehen soll, bleibt vorerst noch ein Geheimnis.

Auf politischer Ebene sieht es nicht besser aus. Die Wahlen haben das Ende der zaghaften Diskussionen über ein politisch liberaleres System eingeläutet - davon zeugt insbesondere die verheerende Niederlage Jawlinskis. Folgerichtig klingt demnach die Aussage des rechtsliberalen Ex-Premiers Sergej Kirijenko in der Nacht nach der Wahl: Die Hauptsache sei die liberale Ausrichtung der Wirtschaftspolitik, selbst auf die Gefahr hin, dass es unter Putin Probleme mit der Demokratie geben könnte.

In einem solchen System haben auch die berüchtigten »Oligarchen« ihren festen Platz. Beispielhaft dafür war die jüngste Mega-Transaktion auf dem russischen Aluminiumsektor - ein Schlüsselbereich der russischen Wirtschaft, Devisenbringer Nummer drei nach Erdgas und Erdöl. Insgesamt 60 Prozent der russischen Aluproduktion haben, berichtete Le Monde am 23. März, auf undurchsichtige Weise den Besitzer gewechselt - hauptsächlich von der bisherigen Nummer eins auf dem russischen Alumarkt, der »obskuren« internationalen Holding TransWorld Group mit Sitz in London, zu Strukturen, die unter Kontrolle von Boris Beresowski und dem mit ihm verbündeten Tycoon Roman Abramowitsch stehen sollen. Abgewickelt wurde der Deal, so Le Monde, über internationale Off-Shore-Firmen - eine »unfehlbare Methode, Anteile zu streuen und den Schein von Konkurrenz herzustellen»; und aus dem zuständigen Ministerium verlautete, »formal« verstießen die Transaktionen nicht gegen die Anti-Monopol-Gesetzgebung.

Ausgebootet wurde demnach Oleg Deripaska, Vorsitzender der rivalisierenden Gruppe Sibirski Alumini, der mit dem ehemaligen Chefprivatisierer Anatoli Tschubais, Chef des russischen Elektrizitätsmonopolisten RAO-ES, einen Plan zur Diversifizierung seines Alu-Unternehmens ausgearbeitet hatte. Kurz, auf diesem profitträchtigen Terrain spielt sich ein Titanenkampf ab, der verspricht, lange auf dem ökonomischen und politischen Leben Russlands zu lasten, wie Le Monde bemerkte.

Es besteht somit kein Widerspruch zwischen ökonomischer Liberalisierung und staatlichem Autoritarismus - aber das weiß man spätestens seit Pinochet. Auch der neue deutsche IWF-Chef Horst Köhler ist der Ansicht, dass Putins Ruf nach einem starken Staat als russische Variante für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung akzeptiert werden sollte. Kanzler Gerhard Schröder jedenfalls will von Anfang an für gute Beziehungen zum russischen Staatsoberhaupt sorgen. Für den Frühsommer ist dazu ein Besuch Putins in Berlin geplant.