Anarchosyndikalist Michail Magid über Russlands Kriegsregierung

»Der Schrecken wurde Instrument der Politik«

Den Wahlkampf führte Wladimir Putin ohne Programm, und auch die Einschätzung seiner Persönlichkeit stößt auf Schwierigkeiten: Sein Lebenslauf weist, wie es sich für einen Geheimdienstler gehört, einige Lücken auf. Sicher ist nur: Sein anscheinend unaufhaltsamer Aufstieg begann mit dem zweiten TschetschenienóKrieg, und er wurde von den mafiösen KremlóKreisen um den ExóPräsidenten Boris Jelzin ausgesucht und aufgebaut. Michail Magid ist Mitglied einer anarchosyndikalistischen Gruppe in Moskau.

In den westlichen Medien wird über Wladimir Putins Persönlichkeit gerätselt.

In den siebziger Jahren detonierten eine Reihe von Sprengsätzen in der Moskauer Metro, es gab mehrere Schwerverletzte. Der KGB verhaftete einige armenische Nationalisten, die angeblich für die Explosionen verantwortlich waren. Damals schrieb Gleb Pawlowski, ein Dissident, sinngemäß: »Es ist nicht wirklich wichtig, wer diese Anschläge ausführte. Wichtig ist, wer sie benutzt: Der KGB, der nun den Druck auf die Opposition erhöht.« Das stimmte. Heute ist Gleb Pawlowski der HauptóImagemaker von Putin. Vielleicht ist das ein Teil der Antwort auf die Frage, wer Putin ist.

Die alte KGB-Strategie half bei Putins Aufstieg. Aber was hat Russland von Putin als Präsidenten zu erwarten?

Drei Elemente sind ausschlaggebend für Putins Politik. Erstens hat er sich immer für einen starken Staat ausgesprochen. Zweitens ist sein Aufstieg mit dem Anwachsen des Nationalismus verknüpft. Und drittens wird er als ehemaliger Chef des Geheimdienstes FSB diesen zu einem Hauptinstrument seiner Politik ausbauen.

Was bedeutet das konkret?

Ein Beispiel: Es existiert seit Februar eine neue Anordnung, nach der in der Armee Abteilungen des FSB installiert werden, die die Offiziere kontrollieren sollen. Ich denke, das sind nur erste Schritte. Der FSB wird stärker werden und nach neuen Wegen suchen, das Leben der russischen Bevölkerung zu kontrollieren.

Warum ist es für Putin so wichtig, die Macht der Geheimdienste zu stärken?

Für Putin sind die Geheimdienste ein Instrument, um die Macht in Russland zu zentralisieren. Ein großes Problem Russlands in den neunziger Jahren war, dass es zu viele Eliten gab, die gegeneinander kämpften. Auf ökonomischer Ebene haben wir eine Menge unabhängiger Gruppen, die gegeneinander kämpfen, und alle haben Kontakte zur Mafia. Und auf der staatlichen Ebene kämpft jede lokale Regierung für mehr Unabhängigkeit vom Zentrum.

Ein weiteres Problem ist die Armee. Nach dem Putsch in Pakistan gab es auch in der russischen Armee ähnliche Überlegungen. Schon bei ihrem Coup in Jugoslawien handelte die Armee weitgehend unabhängig von der politischen Führung.

Was verschafft Putin die Unterstützung in der Bevölkerung?

Sein ideologisches Instrument ist der Nationalismus. Nach den Explosionen in den Wohnhäusern im September gab es eine regelrechte Welle nationalistischer Gefühle. Millionen Russen hatten Angst, sie könnten nachts durch eine Explosion getötet werden. Der Schrecken wurde zu einem Hauptinstrument der Politik. Viele begannen zu denken, es sei besser, alle Tschetschenen zu töten, wenn das für unser normales Leben nötig sei. Das veränderte die Situation in der russischen Gesellschaft radikal. Im ersten Tschetschenienkrieg lösten die ersten Berichte über zivile Opfer in Tschetschenien noch einen Schock aus.

In den russischen Medien, aber auch hier, wurden Indizien vorgebracht, dass die Explosionen vom FSB organisiert sein könnten ...

Die Möglichkeit existiert. Denken wir beispielsweise an die Geschichte in Rijsan. Dort fanden die Bewohner eines Wohnhauses Säcke mit Sprengstoff. Am nächsten Tag behauptete der FSB, ein weiterer Anschlag sei verhindert worden. Zwei Tage später gab der FSB zu, er habe die Sache inszeniert ó als eine Art Training, um zu sehen, wie die lokalen Behörden arbeiten. Allerdings ist es sinnvoller, sich die verschiedenen Interessen anzusehen, als über solche Konspirationen zu spekulieren.

Was heißt das für Tschetschenien?

Dort hatten auch die fundamentalistischen Wahhabiten ein Interesse an der Eskalation. Ihre Lage war im Sommer 1999 nicht sehr gut. Für die vergleichsweise sehr reiche tschetschenische Diaspora, eine wichtige Finanzquelle für Tschetschenien, war der Fundamentalismus absolut inakzeptabel. Sie sagte: »Ihr wollt die Frauen verschleiern? Wir sollen keinen Wein mehr trinken? Auf keinen Fall.«

Zudem gab es in Tschetschenien selbst eine starke Opposition gegen die Fundamentalisten ó auch von Chefs paramilitärischer Gruppen. Einige dieser Leute waren ideologisch nicht festgelegt und sie verstanden, dass der islamische Fundamentalismus ihnen nicht die Möglichkeit geben würde, friedlich zu leben.

In diesem Moment hatten die Wahhabiten nur eine Chance: den Überfall auf Dagestan. Denn es war klar, dass die russische Armee eingreifen und auch Tschetschenien bombardieren würde, und schließlich würde in Tschetschenien jeder sagen: Wir müssen uns vereinen. Und jetzt sind die Fundamentalisten stärker als vor der russischen Intervention.

Zurück zu Putin. Welche gesellschaftlichen Kräfte stehen gegen seine Kriegspolitik? Was ist mit der KP?

Die KP ist keine Partei, die gegen den Krieg eintritt. Anfangs hat sie den Krieg unterstützt, nun sagt sie, die Operationen müssten anders durchgeführt werden.

Momentan sehe ich keine Kraft in Russland, die Widerstand gegen den Krieg leisten könnte. Nur einige Oligarchen, wie beispielsweise Wladimir Gusinski, stören die Kriegspropaganda. So zeigte der von Gusinski kontrollierte TVóSender NTW russische Soldaten, die Tschetschenen in einem der berüchtigten Filtrationslager schlugen. Sie machten sich über einen offensichtlich geistig Verwirrten lustig, meinten, den Muslimen würden sie nur Schweinefleisch zu essen geben. Aber vielleicht macht Gusinski schon bald einen Deal mit Putin und diese Berichterstattung wird gestoppt.

Was ist mit der Arbeiterbewegung? Sie hat vor zwei Jahren die Transsibirische Eisenbahn blockiert, es wurden Fabriken besetzt.

Von außen sehen die Besetzungen teils sehr radikal aus. Aber oft stehen Kämpfe zwischen den verschiedenen oligarchischen und mafiosen Gruppen um die Kontrolle der Fabriken dahinter. Ein Beispiel: Arbeiter bekommen einige Monate keinen Lohn. Wenn der Besitzer der Fabrik dann Probleme mit einem Konkurrenten bekommt, der die Fabrik unter seine Kontrolle zu bekommen versucht, zahlt der Besitzer ein wenig Lohn und sagt: »Schaut, wie gut ich bin. Wenn ihr unter die Kontrolle dieses Bastards kommt, wird er euch alle rausschmeißen. Also schützt mich.« Und tatsächlich verteidigen dann die Arbeiter die Fabrik ó nicht für sich selbst, sondern für ihren in Bedrängnis gekommenen Chef.

Ist im Rahmen dieser katastrophenähnlichen Entwicklung des russischen Kapitalismus Putins Strategie zur Zentralisierung der Macht nicht vernünftig?

Mag sein, aber ich bin nicht sicher, ob Putin damit erfolgreich sein wird. Bis heute unterstützten alle lokalen Eliten Putin, weil jeder sicher sein konnte, dass er der nächste Präsident wird und ein warmes Plätzchen nahe dem Führer wollte. Jetzt ist Putin Präsident und muss Politik machen und wird versuchen, die Macht der verschiedenen lokalen Eliten einzuschränken.

Außerdem lässt Putins Popularität schon nach. Etwa 4 000 russische Soldaten wurden in Tschetschenien getötet, etwa 6 000 verwundet. Und die Situation der russischen Wirtschaft ist noch immer sehr schlecht. Nun gibt es den Beschluss der OpecóLänder, die Ölfördermenge hochzuschrauben. Wahrscheinlich wird das der russischen Ökonomie ernsthaft schaden. Schließlich hängt die Wirtschaft in hohem Maße vom Ölpreis ab. Manche Ökonomen befürchten schon einen neuen Krisenschub.

Wie wird Putin reagieren?

Ich befürchte, dass Putin als Präsident die gleichen Waffen einsetzen wird, die sich zu Beginn seines Aufstiegs vom Unbekannten zum Präsidenten als wirksam erwiesen haben. Wenn der Krieg gegen die Tschetschenen beendet ist, dann müssen sie etwas anderes erfinden, um die Leute in Schrecken zu versetzen, um dann zu sagen: »Es gibt nur einen, der euch helfen kann.«