Fanny Müller über

Unsichtbare Damen

Als ich kürzlich mit einer Freundin in der UóBahn fuhr, vergnügten sich ihre beiden fünfó und siebenjährigen Töchter damit, die anderen Fahrgäste zu taxieren: »Die Frau ist schön. Die Frau ist nicht schön.« Ihre Kriterien blieben uns weitgehend verborgen; wir bemühten uns aber, aus dem Fenster zu sehen und vorzugeben, wir hätten mit den Kindern nichts zu tun, um den Blicken der Verurteilten zu entgehen.

Kurz bevor wir aussteigen mussten, hatten die Mädels noch ein Opfer entdeckt. Eine Frau um die 50 im Minirock, mit weizenblond aufgetürmten Locken, bunten Ohrclips und superscharfen hohen Pumps schickte sich ebenfalls an, den Wagen zu verlassen. Die Mädels, ganz Auge, waren begeistert: »Kuckma Mama, die Oma ist schön!« Irgendwie hatten sie die Sachlage ja erfasst, aber für Mamas und Nenntanten ist das eine Situation, die sie wünschen lässt, dass sie in ihren Erziehungsbemühungen doch eher den Grundsatz »Kinder soll man sehen, aber nicht hören« berücksichtigt hätten.

Nach meiner letzten Lesung gab es am nächsten Tag eine weitgehend positive Rezension in der lokalen Zeitung, außer dass der Journalist ó es war natürlich ein Mann ó geschrieben hatte: »... eine unscheinbare Dame erklomm das Podium ...« Also, »Podium« ist richtig, weil die Lesung in einem Theater stattfand, »erklomm« ist richtig, weil ich meine Wanderschuhe anhatte und »Dame« stimmt auch, soviel ich weiß, aber »unscheinbar»? ó Was er eigentlich hatte sagen wollen, war »unsichtbar«, das ging aber in diesem Zusammenhang wohl irgendwie nicht, immerhin waren über 200 Augen auf mich gerichtet, und da hatte der Thesaurus ihm eben stattdessen »unscheinbar« angeboten.

Unsichtbar ó pass auf! ó unsichtbar ist nämlich für einen Mann jeden Alters jede Frau über, sagen wir mal, 40. Vielleicht mit Ausnahme von schönen Omas oder rothaarigen Schlampen mit wogendem Busen (Milva). Der Rest ist schlicht nicht vorhanden. Wahrscheinlich laufen deshalb auch so oft Männer auf der Straße direkt in mich hinein oder machen mir keinen Platz, wenn ich durch eine Drehtür will. Bisher hatte ich das auf den allgemeinen Niedergang der guten Sitten geschoben, aber Tatsache ist: Die sehen mich einfach nicht. Im Gegenzug sollen Männer über 40 ja erst interessant werden für Frauen.

Davon weiß ich nichts. Ich habe noch nie näher mit einem zu tun gehabt, der älter war als 38, das musste jetzt mal gesagt werden. Und ich gedenke nicht, da irgendwas dran zu ändern. Männer über 40 haben Krisen und sind für meinen Geschmack oft allzu sichtbar. Und hörbar.

Was? Wie ich gekleidet war? Daran kann's nicht gelegen haben. Ich trug wie immer das kleine Lesungsschwarze, und mein echtes! Bernsteingeschmeide hatte ich auch angelegt. Nicht zu vergessen: Lippenstift! Und nicht zu knapp!

»Seriös« wäre ein passender Ausdruck gewesen. »Gediegen« hätte es eventuell gebracht, meinetwegen auch »spießig« ... aber unsichtbar? Die ganze Sache hat natürlich auch ihre guten Seiten. Stell dir vor, welch sagenhafte Perspektiven sich da auftun. Beim Ladendiebstahl. Beim Straßenraub. Beim Terrorismus. Der Polizeipressesprecher gibt bekannt: »... alle Zeugen erklären übereinstimmend, dass sie am Tatort nichts Auffälliges bemerkt haben ...«

Auf geht's, meine Damen!