Randale in Nordfrankreich

Das Gedächtnis der Banlieue

Er wollte sich nur einen fremden Wagen ausleihen - ein Polizist schoss ihm in den Nacken. Nach dem Tod eines Einwandererkindes kam es in Lille zu Unruhen.

An was denken Sie beim Wort 'Gewalt'? In Deutschland werden Sie vor allem an rechtsextreme Gewalt gegen Ausländer denken. In Spanien an häusliche und familiäre Gewalt, deren Opfer Frauen sind. Und in Frankreich an die violences urbaines, an die großstädtische Gewalt, für die das Französische einen Begriff geprägt hat, der in keiner anderen europäischen Sprache eine volle Entsprechung findet.«

Zu solchen Reflexionen drängte es Le Monde vergangene Woche, als Randale nach dem Tod des 25jährigen Ryad Hamlaoui die nordfranzösische Metropole Lille in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückte. Der Sohn algerischer Eltern war am frühen Morgen des 16. April von dem zwei Jahre älteren Polizisten Stéphane Andolina getötet worden.

Daraufhin brannten Dutzende von Autos im Städtekonglomerat Lille / Tourcoing / Roubaix. Acht Polizisten wurden verletzt, ein Polizeikommissariat sowie zwei Métro-Stationen zerstört. Am Sonntagabend nahm die Polizei 71 Personen fest, am Montag weitere 38.

Die violences urbaines, das ist eine subproletarische Revolte, die ohne bewusstes politisches oder gesellschaftliches Ziel auskommt. Die jungen Bewohner der meist heruntergekommenen und von starker Arbeitslosigkeit geprägten Trabantenstädte rund um die großstädtischen Zentren - die Banlieue -, liefern sich für kurze Zeit intensive und schlagzeilenträchtige Straßenschlachten mit den staatlichen Ordnungskräften.

Auslöser spontaner Revolten ist häufig der Tod eines Jugendlichen, meist aus einer Immigranten-Familie. Beteiligt fast immer die Polizei. Der Tod bringt die aufgestaute Wut zum Ausbruch - Wut über die Arroganz, mit der die übrige Gesellschaft die Bewohner der Banlieue und die Immigranten-Kids behandelt, Wut über die Diskriminierung bei der Arbeitssuche und über die Öde eines Lebens ohne soziale Perspektive.

Die Jugendlichen einer Banlieue, die ansonsten auf sich gestellt sind und sich in kleinen Gruppen organisieren, schließen sich gegen den gemeinsamen Feind in Uniform zusammen. Der entsendet als Verstärkung größere Einheiten, die sich wie eine Besatzungstruppe im Feindesland durch die Vorstädte bewegen. Und endlich haben die jungen Aufrührer den Eindruck, dass man sie wahrnimmt: Die Journalisten und Kameras interessieren sich für ihre Aussagen, in den Fernseh-Nachrichten spricht man von ihnen.

Doch allein aus aufgestauter sozialer Wut und Geltungsdrang lassen sich die violences urbaines nicht erklären: Der Zorn richtet sich auch und vor allem gegen Uniformträger, für die die Banlieue und Immigranten-Viertel eine Art von Jagdgründen darstellen, in denen sie sich ungestraft an einer zum Feindbild stilisierten Bevölkerungsgruppe abreagieren dürfen.

In den vergangenen Monaten hat die Regierung von Premierminister Lionel Jospin bemüht, die Spannungen in den Trabantenstädten abzubauen. Ein nach dem amtierenden KP-Minister für Transport und Wohnungsbau »Loi Gayssot« benanntes Gesetz soll für stärkere »soziale Durchmischung« der Wohnviertel sorgen und Tendenzen einer Getto-Bildung verhindern. Für jede Kommune soll eine Quote von mindestens 20 Prozent sozialem Wohnungsbau festgelegt werden. Damit soll der Tendenz größerer Städte, die »unfeinen« Bevölkerungsteile aus ihren Mauern in die Banlieue zu drängen, ein Riegel vorgeschoben werden - Paris müsste 75 000 zusätzliche Sozialwohnungen zur Verfügung stellen, das noble Nizza 16 000.

Gleichzeitig hat Innenminister Jean-Pierre Chevènement unter dem Parole »bürgernahe Polizei« ein Programm aufgelegt, das die bisher vor allem in der Banlieue eingesetzten Repressions-Truppen, die die so genannten Problemviertel ausschließlich zu Strafexpeditionen betreten und ansonsten keinerlei Kontakt zu ihrer Bevölkerung pflegen, durch ortsfeste, mit ihrer Umgebung vertraute und für die Bewohner ansprechbare Einheiten ersetzt. Diese rekrutieren sich je zur Hälfte aus Polizeibeamten und aus Jugendlichen dieser Viertel, die in emploi-jeunes, in ABM-Stellen für Jugendliche, beschäftigt sind.

Lille Sud, wo 23 000 Einwohner - darunter viele Immigranten - eingekeilt zwischen Autobahn und Eisenbahnlinie in einem alten Arbeiterviertel des 19. Jahrhunderts und Hochhäusern der sechziger Jahre wohnen, war eines der Experimentierfelder für die neue »bürgernahe Polizei«. Trotzdem fanden hier die Unruhen der vergangenen Woche statt. Dabei äußerten sich selbst die revoltierenden Jugendlichen vor den Kameras eher positiv über ihre Erfahrungen mit den neuen Einheiten.

Doch die sind nur wochentags zwischen 9 und 19 Uhr tätig. Für die Nächte und das Wochenende gibt es weiterhin die »klassischen« Repressions-Kräfte, die BAC (Brigades Anti-Criminalité) und die Hundestaffeln, die in ständig wechselnden Bezirken eingesetzt werden. Schon Ende März hatte ein führender Vertreter der Polizeigewerkschaft SNPT in Libération vor einer Zweiteilung im Auftreten der Polizei in »bürgernahe« good guys und repressive bad guys gewarnt und die Befürchtung geäußert, letztere könnten »in einer Nacht kaputt hauen«, was die ersten in »monatelanger Arbeit« errichtet haben.

Genau das scheint nun in der Südstadt von Lille passiert zu sein. Kaputt gehauen wurde hier allerdings nicht in einer Nacht. Schon seit Wochen waren die Spannungen zwischen polizeilichen Hardliner-Einheiten und Immigranten-Kids angewachsen. Als am 24. März ein Mitglied der BAC-Truppe bei einer Festnahme verletzt wurde, schworen die Repressions-Truppen Rache. Schikanöse Personenkontrollen, die in den meisten Banlieue für die Jugendlichen ohnehin zum Alltag zählen, wurden mit Wildwest-Methoden durchgeführt, begleitet von Kommentaren wie: »Ihr wollt Krieg, ihr könnt ihn haben.«

Anlass dafür, dass der Krieg in der Nacht vom 15. auf den 16. April begann, war ein fast normaler Zwischenfall. Um 0.27 Uhr ging ein Anruf im Polizeikommissariat ein: Jugendliche machten sich verdächtig an einem Opel Corsa zu schaffen. Die Polizei schickte zwei Beamte einer Hundestaffel, die sich zufällig wenige hundert Meter entfernt befanden, zum Ort des Geschehens. Dort waren tatsächlich zwei Jugendliche dabei, das Auto aufzubrechen: Ryad Hamlaoui, ein beur, ein Einwanderungskind - der noch nie Bekanntschaft mit der Polizei gemacht hatte - und sein Kumpel, der der Polizei wegen Kleindelikten bekannt war.

Leicht angetrunken wollten die beiden ein Auto »ausleihen«, um Ryads am folgenden Montag bevorstehende Arbeitsaufnahme in einer ABM-Stelle beim Liller Rathaus zu feiern. Unter Jugendlichen der Vorstädte ein normaler und verbreiteter Zeitvertrieb. Meist wird das Auto wenig später in nächster Nähe aufgefunden.

Einer der beiden Polizisten legte Ryads Kumpel auf dem Fahrersitz Handschellen an, was dieser widerstandslos geschehen ließ. Auf der anderen Seite näherte sich der Beamte Stéphane Andolina. Plötzlich habe sich Ryad auf dem Beifahrersitz gebückt, behauptet Andolina. Da habe er Angst bekommen: Womöglich hätte der Jugendliche nach einer Waffe gegriffen. Der Beamte feuerte aus knapp zwei Metern Entfernung. Ryad wurde in den Nacken getroffen und war sofort tot. Es war 0.30 Uhr. Die beiden Jugendlichen waren unbewaffnet gewesen.

Die Justiz leitete gegen Andolina ein Ermittlungsverfahren unter dem Vorwurf des vorsätzlichen Totschlags ein. Der Polizist wurde aus dem Dienstverhältnis entfernt und in die Justizvollzugsanstalt Osny im Pariser Umland gebracht. Eine so energische Reaktion ist in Frankreich neu. Insgesamt wurden seit 1995 22 Verfahren gegen Polizisten wegen unberechtigten Einsatzes ihrer Schusswaffe eingeleitet. Ein einziger von ihnen muss eine Haftstrafe absitzen. Die meisten Opfer waren Jugendliche, 36 Prozent von ihnen ausländischer Nationalität.

In einem scharfen Kommentar merkt Le Monde an: »Die Justiz sieht einen Sondertarif für Polizisten vor: Sie werden nie zu hohen Strafen verurteilt. Diese Zwei-Klassen-Justiz schlägt auf die Beamten selbst zurück. Sie trägt zum Gewaltklima in den Quartieren bei. Jeder Fall von Polizeigewalt prägt das Gedächtnis der Banlieue.«