Vorwärts und vergessen

Die Nato-Staaten können mit dem Kosovo nichts anfangen. Paradoxerweise müssen sie gerade deshalb dauerhaft militärisch präsent sein und eine Art immerwährendes Protektorat errichten.

In einer Disziplin ist das medial-verdummte Bewusstsein unserer Tage wahrlich unschlagbar: im Vergessen. Aus dem Blickfeld der Fernsehkameras, aus dem Sinn. Der Jugoslawien-Krieg von 1999 demonstriert das nicht nur insofern eindringlich, als die unmittelbaren Folgen des Krieges für die eigentliche Wirklichkeit - die Nachrichtenwirklichkeit - inexistent geworden ist, auch wenn zwischen Novi Sad und Belgrad nach wie vor die meisten Brücken in der Donau liegen.

Die Nato-Verantwortlichen können ihre Intervention im Rückblick überhaupt nur als Erfolg feiern, weil ihnen und der hiesigen Öffentlichkeit in der Zwischenzeit entfallen ist, mit welcher offiziellen Zielsetzung vor einem Jahr der Feuerzauber in Szene gesetzt wurde. Der scheidende Nato-Oberbefehlshaber für Europa, US-General Wesley Clark, sei »der richtige Mann am richtigen Platz zur richtigen Zeit« gewesen, konnte Nato-Generalsekretär George Robertson deshalb zu Clarks Abschied letzte Woche behaupten, ohne zu erklären, warum. Und Clarks Nachfolger, der US-Luftwaffengeneral Joseph Ralston, bemühte ein Jahr nach dem Krieg lediglich die gemeinsamen transatlantischen Werte: Die Stärke der Nato liege nicht in ihren Streitkräften, sondern im Freiheitsgeist und der Einheit der Allianz. Diese Einheit fördere »Frieden, Stabilität und Wohlstand«.

Vor einem Jahr war man noch konkreter gewesen. Die Militärmaschine der Nato sollte, so damals der Anspruch, den Prozess der »ethnischen Säuberungen« stoppen. Heute ist das Protektorat Kosovo (fast) Serben- und Roma-rein. Die USA und ihre Verbündeten wollten die »Inkarnation des Bösen« aus dem Amt gejagt sehen - doch Slobodan Milosevic sitzt in Belgrad so fest im Sattel wie eh und je. Statt einer Europäern und US-Amerikanern genehmen Friedensordnung haben Madeleine Albright und Joseph Fischer einen prekären Waffenstillstand herbeigebombt, der an dem Tag, an dem die internationalen Polizeitruppen abziehen würden, zusammenbrechen muss.

Der selbst ernannte nordatlantische Weltpolizist hat mit seiner Intervention zweifellos seine alles erdrückende militärische wie ideologische Übermacht unter Beweis gestellt. Jugoslawien hatte nie den Hauch einer Chance, sich gegen das ballistische Übungsschießen auch nur ansatzweise zu verteidigen und aus einem einseitigen Gemetzel einen richtigen Krieg mit Verlusten auf beiden Seiten zu machen. Die USA und ihre Verbündeten erhoben nicht nur den Anspruch »Morden darf nur der Norden«, sie können diesen edlen Grundsatz in fast allen Gegenden dieser Welt auch praktisch durchsetzen. Die Gemeinschaft der westlichen Demokratien hat außerdem klargestellt, wer die absolute Definitionsgewalt inne hat: Die Menschenrechtskrieger und sonst niemand bestimmen, wann eine »humanitäre Katastrophe« vorliegt und wählen die »bad guys« für ihre sicherheits-imperialistischen Inszenierungen nach Belieben aus.

Diese ideologisch-militärische Allmacht des Westens ist aber nur die halbe Wahrheit. Sie kontrastiert mit der Unfähigkeit, die innere Entwicklung der dem westlichen militärischen Zugriff ausgelieferten Regionen perspektivisch zu gestalten. Die Nato-Staaten können mit dem Kosovo nichts anfangen und gerade deshalb müssen sie paradoxerweise dauerhaft militärisch Präsenz zeigen und eine Art von Dauer-Protektorat errichten.

Nichts ist so albern wie die Vorstellung, irgendwelche handfesten Ausbeutungsinteressen hätten den Westen dazu animiert, im Kosovo einzugreifen, oder die UCK agiere als der verlängerte Arm des deutschen oder eines sonstigen ökonomisch motivierten Imperialismus. Beim ehemaligen Jugoslawien handelt es sich, sieht man von Slowenien und Teilen Kroatiens einmal ab, vom Verwertungsstandpunkt aus längst um verbrannte Erde.

Dass in den Nachfolgestaaten des Tito-Reiches durch die Bank hochgradig mafiotisch durchsetzte Regimes das Kommando übernommen haben, ist weniger Grund als vielmehr Folge der verlorenen Entwicklungsperspektive. In der Arbeitsteilung des globalisierten Kapitalismus besteht für die produktiven menschlichen und natürlichen Ressourcen der Region so viel Bedarf wie für den Sand der Kalahari. An den transnationalen Geldkreisläufen können die postjugoslawischen Splitterstaaten nur mehr sekundär partizipieren. Devisen fließen entweder als Transferleistungen von Emigranten, in der Gestalt internationaler Hilfsleistungen oder über illegale Geschäfte in die Region. Nach Schätzungen des italienischen Geheimdienstes stammt mindestens ein Drittel des montenegrinischen »Staatshaushaltes« direkt oder indirekt aus dem transadriatischen Zigarettenschmuggel. Dass Rom diesem Wirtschaftszweig eigentlich nicht allzu viel Sympathie entgegenbringen kann, versteht sich von selber. Angesichts der insbesondere in den USA viel gefeierten West-Orientierung der montenegrinischen Regierung macht man dort aber bis auf Weiteres gute Miene zu diesem Spiel.

Artverwandte De-facto-Deals bilden insgesamt die Grundlage der Beziehungen zwischen westlichen Interventionsmächten und lokalen Warlord-Regimes. Ob die UCK im Kosovo oder ihre Kollegen in Bosnien, als unmittelbarer Ansprech- und Verhandlungspartner der »internationalen Gemeinschaft« verfügen die mit der Staatsgewalt verschmolzenen Mafiaorganisationen über einen privilegierten Zugang zu den Geldern, die sich der Westen die Sicherung von Demokratie und Menschenrechten kosten lässt. Dafür ist man nicht nur bereit, die westlichen Werte hochleben zu lassen. Man wahrt ein bisschen den Schein, geht vielleicht in Sachen »ethnische Säuberungen« einmal etwas langsamer vor und bietet dem Westen vor allem die Möglichkeit, entlaufene Landsleute in ihre Homelands abzuschieben.

Schon die Rolle, die den internationalen Polizeitruppen als unmittelbare zahlungskräftige Nachfragemacht im ausgepowerten Kosovo zukommt, darf nicht unterschätzt werden. Nach dem Dayton-Abkommen hat sich, um gleich eine der ekelhaftesten Seiten zu erwähnen, Bosnien zum Zentrum der Zwangsprostitution in Europa entwickelt. Insbesondere aus Russland wurden massenweise Frauen verschleppt, um die Versorgung sich langweilender Blauhelmtruppen mit weiblichem Frischfleisch sicherzustellen. Die Kämpfer von gestern haben davon reichlich profitiert. Mittlerweile hat Pristina gegenüber Sarajewo in dieser Beziehung reichlich Boden gut gemacht.

Die Form der Teilnahme an den Herrlichkeiten von Marktwirtschaft und Demokratie, die die westlichen Friedensengel dem Kosovo garantieren, sieht ziemlich erbärmlich aus. Sie passt damit bestens zum globalisierten Ausschlusskapitalismus unserer Tage. Der westlichen Öffentlichkeit fällt das weiter nicht auf, weil sie lieber nicht mehr hinsieht, wenn die spektakulären Bilder fehlen. Dass die Menschenrechtskrieger ihren Misserfolg erfolgreich ignorieren können, heißt indes noch lange nicht, dass Interventionen wie im Kosovo in der Zukunft zum Normalfall werden. Allzu viele solcher endloser Einsätze können sich nicht einmal die USA leisten, von der BRD ganz zu schweigen. Umbau der Bundeswehr in Richtung »Krisenintervention« hin und her - das eigentliche Menetekel für die Schlächtereien der nächsten Jahre dürfte eher in Tschetschenien als im Kosovo zu finden sein.