Visionen der Expo 2000

Die große Leere

Die Visionen der Expo 2000 orientieren sich an den Science-Fiction-Ideologemen des 20. Jahrhunderts. Herausgekommen ist eine ästhetisch und politisch schale Folklore.

Der menschliche Geist, wie ihn sich der auf Eroberung, Erkundung, Aneignung und Verwertung spekulierende eurozentrische Universalismus vorstellt, ist ein nimmermüder Sucher: In der Wüste spürt er nach Wasser, auf dem Meer späht er nach Land. Das, was gerade nicht da ist, will gefunden sein.

Suchen wir also nach dem, was der Expo 2000 am augenfälligsten abgeht: Sinn. Wäre die Welt so, wie sich das der (Post-) Strukturalismus denkt, könnte man die ganze Veranstaltung als eine Konfiguration der bildergeilen Subjektivität des »informierten Menschen« betrachten, die auf 1 600 000 Quadratmetern realisiert wird. Der »informierte Mensch« stellt dabei seinerseits eine Verfallsform der Figuren des »Gebildeten« aus dem 19. Jahrhundert und des »mündigen Bürgers« aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar, die postfordistischen Bedingungen angepasst wurden, um als Blaupausen für den Info-User zu taugen.

Die zur Expo parallel laufende Propaganda reicht vom jämmerlichen »Die Zukunft besteht aus coolen Glasbauten und Menschen in Silberfolie-Schlafanzügen»-TV-Werbefilmchen bis zum »DB ExpoScout« der Bahn, der »Sie am Eingang in Halle 13 auf riesigen Monitoren begrüßt«. Sie lässt in der Tat vor allem das merkwürdig ziellose Bemühen erkennen, für möglichst viel »Informationsaufkommen« zu sorgen.

Es ist, als wolle jemand mit all den »Visionen« und »Führungen durch Forschung & Technik, Wirtschaft & Business, Fun & Sports, Kunst & Kultur, Menschen & Nationen, Natur & Umwelt« (Bahnbroschüre) den spekulativen Leitsatz der postmodernen Ökonomie, dass Umsatz wichtiger als Profit sei, auf das Terrain der »Infowirtschaft« übertragen. Das heißt, niemand weiß, nachdem er oder sie auf der Expo gewesen ist, mehr als zuvor. Aber immerhin wird vorgeführt, dass es wenigstens diffus noch etwas zu wissen gibt über »die Welt, in der wir leben« - so lautete der Köderspruch der Sachbuch-Industrie, als »Was ist was?« noch eine neue Buchreihe war.

Das entsprechende volkspädagogische Modell wird auf der Expo 2000 genauso sichtbar wie auf anderen absurden Didaktik-Großveranstaltungen der jüngsten Zeit - z.B. der schreiend anbiederischen »Physikberlinale« in der Berliner Urania zum Auftakt des »Jahres der Physik«. Es geht um das Modell des »begehbaren Wissens»: eine verräumlichte und kollektivierende, summarische und vage gegen den individualistischen Geniebegriff gerichtete Vorstellung von der Gesamtheit aller mit Erkenntnis befassten Kommunikation.

Das entspricht und gehorcht einer zunehmenden »Architekturalisierung der Wissenschaft und Verwissenschaftlichung der Architektur«, wie sie der Harvard-Professor für die Geschichte der Wissenschaft und der Physik, Peter Galison, beschrieben hat: Alles ist Space. Wir leben also wirklich, wie Science-Fiction-AutorInnen und ihre Fans gerne sagen, im »dritten Space Age»: in den von John F. Kennedys »New Camelot»-Visionen geprägten Sechzigern war der Space der Weltraum, in den psychedelischen Siebzigern der »Inner Space« (J.G. Ballard/Brian Aldiss) und ab Mitte der Achtziger konstituierte sich der Wissens-, Info- und Cyberspace.

Die Tendenz zur Erkundung und Vermessung solcher Räume hat in den letzten zwanzig Jahren gerade auch in der Wissenschaftstheorie von Niklas Luhmann oder den US-Science Studies ihren Niederschlag gefunden. Gegen den einzelnen Erkennenden der cartesisch/galileischen Tradition - den »mathematischen Marlboro-Mann«, wie die Mathematikerin und Feministin Claudia Henrion spottet - setzt das neue Bild mal das Zauberwort »Kommunikation«, dann wieder eine Variante des »sozialen Konstruktivismus«.

Wie immer man diesen definieren will: Der Ausdruck »Konstruktion« lässt jedenfalls erahnen, dass es dabei um Bauten, Gerüste, Stützen und Fundamente geht. Einer der blassesten, abstraktesten Begriffe, »das Wissen«, soll so der anschaulichen Beschreibung erschlossen werden. Je imposanter die Wissens-Kathedrale in dieser Beschreibung am Ende ausschaut, desto kühner dürfen sich die Beschreibenden vorkommen.

In der Science-Fiction-Literatur und den von ihr inspirierten Filmen steht für diesen Architektur / Wissens-Konnex das big dumb object: z.B. das von den Menschen leer im All treibend aufgefundene Riesen-Raumschiff »Rama« bei Arthur C. Clarke; Larry Nivens um eine Sonne in Form eines gewaltigen Gürtels konstruierte »Ringwelt»; der ausgehöhlte, in sieben verlassene stadtgroße Kammern unterteilte »Stein« aus Greg Bears »Thistledown»-Romanen; die Brutstätten der Aliens in den »Alien»-Filmen und die marsianischen Untergrund-Anlagen in Paul Verhoevens Schwarzenegger-Film »Total Recall«.

Sieht man sich die Vorab-Bilder zum Hannover-Wahnwitz an, fühlt man sich unwillkürlich an einen solchen Schauplatz versetzt; meinetwegen auch: »gebeamt«. Die Expo-MacherInnen müssen sich noch nicht einmal bewusst bei den genannten oder vergleichbaren Filmen und Romanen bedient haben. Die davon abgezogenen Bilder sind inzwischen Folklore.

Deren ästhetische Einschüchterungsmacht entspringt einer lustvollen Ohnmachtsphantasie, die in der Science Fiction gewollt ambivalenten Genuss stiftet: Meist außerirdischer Herkunft, ist das big dumb object der SF gewöhnlich einfach ein riesiges Artefakt, dessen Gigantomanie die menschlichen ProtagonistInnen - AstronautInnen, EntdeckerInnen, WissenschaftlerInnen - den sense of wonder verspüren lässt; das Staunen darüber, wie »weit sie uns voraus sind«. So wäre also die Protz- und Prachtstumpfheit der Expo-Anlagen Ausfluss einer ideologischen Brühe, deren Zutaten im kollektiven Unbewussten des dritten Space Age gereift sind?

Für eine solche Betrachtung, die weitgehend von Schuldigen und Leidtragenden gesäubert ist, spräche, dass einem am Ende unwichtigen Humbug wie der Expo zu Recht der Platz eines bloßen Effekts zugewiesen wird. Dagegen aber spricht genau das Gereinigtsein von Leidtragenden und Schuldigen.

Wenn ich sehe, wie ein Stück Regenwald nach Hannover verpflanzt wird, mit dem vorgeblichen Ziel, diesen riesigen historischen Kriegsschauplatz der Vernichtung von Biodiversität »erfahrbar zu machen«, dann möchte ich gegenüber den Ausrichtern dieser Obszönität moralisch werden. Dann will ich, dass ihnen wer erklärt, dass diese Idee, nämlich »Umweltschutzbewusstsein wecken durch Naturvorführung unterm Dach«, ungefähr so widerlich ist wie eine Tournee von Folteropfern der drei Kontinente durch Schulklassen, damit im Gemeinschaftskundeunterricht Wundmale betatscht werden können.

Und wenn ich sehe, wie NaturwissenschaftlerInnen auf den großdidaktischen Zug aufspringen und etwa das von Mittelkürzungen und Interesselosigkeit industrieller Sponsoren bedrohte Häuflein der GravitationsphysikerInnen sich über die Aufnahme des Gravitationswellen-Interferometer-Bauplatzes bei Hannover in den Expo-Katalog freut, weil da »Menschen an die Wissenschaft herangeführt werden«, dann möchte ich diese armen TräumerInnen packen und schütteln. Und ihnen klarmachen, dass auch die beste Museums-Animationsleinwand nichts hilft, wenn an den entsprechenden Fakultäten gleichzeitig politisch die Bedingungen für Forschung, die sich nicht dem Verwertungsinteresse beugt, immer mehr verschärft werden.

Das wird an Bestrebungen sichtbar, die die Besoldung der Hochschullehrer leistungsgerecht gestalten und die Habilitanden-Struktur zu Gunsten einer neu einzurichtenden Billigprofessur abschaffen wollen. Jenseits dieser politischen Dimension aber bleibt die Expo das, was die am Anfang genannte strukturale Beschreibung in ihr sieht: ein von bizarr nostalgischer Golden-Age-Science-Fiction-Romantik überzuckertes Beispiel für den »Niedergang der visuellen Bildung« (Barbara Maria Stafford) im Rahmen eines ideologischen Trägerwerks, das von der Behauptung lebt, Erkenntnis ließe sich auch ohne Reflexion auf das Erkenntnisinteresse sozial nutzen.

Genau diese Behauptung ist der Irrtum, der die »Visionen« der Expo schal, die utopischen Hoffnungen blind und selbst die genialsten Einsichten der unpolitischen Wissenschaften dumm macht.