Entschädigung für griechische NS-Opfer

Alle Forderungen offen

Nach einem Urteil des Obersten Gerichtshofs in Athen muss Deutschland die griechischen NS-Opfer entschädigen. Obwohl die letzte Frist gerade abläuft, wiegeln die Bundespolitiker ab.

Auf diesen Tag haben viele Verwandte der Opfer der deutschen Besatzung lange gewartet. Am kommenden Sonntag läuft die Frist ab, die die Hinterbliebenen des Massakers von Distomo der deutschen Regierung eingeräumt haben, um ihren Entschädigungsforderungen nachzukommen. Sie berufen sich dabei auf eine Entscheidung des Areopag, des Obersten Gerichtshofs Griechenlands, der Anfang Mai ein Urteil des Landesgerichts von Livadia bestätigt hatte. Demnach muss die Bundesrepublik den Überlebenden eine Entschädigung in Höhe von 9,5 Milliarden Drachmen (28,2 Millionen Euro) zahlen.

Die Kläger haben ein symbolträchtiges Datum für ihre Frist gewählt. Vor 56 Jahren, am 10. Juni 1944, war die 2. Kompanie des SS-Polizei-Panzergrenadier-Regiments 7 während einer Strafexpedition gegen Widerstandskämpfer in der Nähe von Distomo, einer kleinen Stadt 130 Kilometer nördlich von Athen, in einen Hinterhalt geraten, bei dem sieben deutsche Soldaten ums Leben kamen. Die Rache war gnadenlos. Die gleiche SS-Einheit kehrte in den Ort zurück, sperrte die Bewohner in ihre Häuser ein, tötete in einer »Sühne-Maßnahme« wahllos Frauen und Kinder. 218 Zivilisten wurden insgesamt ermordet.

In Griechenland wusste in der Nachkriegszeit zwar jedes Schulkind von den Kriegsverbrechen von Distomo oder Kalavrita, die Frage der Entschädigung wurde allerdings erst in den neunziger Jahren wieder zu einem öffentlichen Thema. Bis zur Wiedervereinigung hatte Bonn jede Verantwortung mit dem Argument abgelehnt, dass nur eine gesamtdeutsche Regierung weitere Kriegsentschädigungen leisten könne. Die alte BRD habe mit dem Wiedergutmachungsvertrag von 1960 und der damit verbundenen Zahlung von 115 Millionen Mark für alle griechischen NS-Opfer ihren Beitrag schon geleistet. Zudem wurde auf die EU-Mittel für Griechenland verwiesen, die zu einem wesentlichen Teil von Deutschland finanziert worden seien.

Bundespräsident Johannes Rau folgte dieser Ansicht, als er bei seinem diesjährigen offiziellen Griechenlandbesuch allenfalls eine »symbolische Entschädigung« in Aussicht stellte. Bundeskanzler Gerhard Schröder bezeichnete das Thema als »endgültig abgeschlossen«. Griechische Gerichte seien in dieser Frage gar nicht zuständig, da sie nach internationalem Recht keinen anderen Staat wegen Kriegsfolgeschäden verklagen könnten.

Andererseits betrachtet sich auch die deutsche Justiz als nicht zuständig. Klagen griechischer Opfer werden von deutschen Gerichten nicht zugelasssen. So berichtete die linke Zeitung Avgi Mitte Januar von einem in Deutschland lebenden Griechen, der einen Prozess um Entschädigung vor dem Landesgericht Karlsruhe anstrengen wollte. Sein Antrag auf Prozesskostenhilfe wurde jedoch von dem Karlsruher Gericht mit der Begründung zurückgewiesen, dass für diesen Fall schließlich die griechischen Gerichte zuständig seien.

Das Urteil des Areopag ist daher bahnbrechend für die weitere Entwicklung. Mit großer Mehrheit entschied das Gericht, dass in diesem Falle der Staat Griechenland befugt sei, gegen Deutschland zu prozessieren. Der Oberste Staatsanwalt Panagiotis Dimopoulos hat sich auf das Urteil des Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunals berufen. Demzufolge können von Staaten begangene Straftaten von anderen Staaten dann verfolgt werden, wenn Handlungen vorliegen, die das Internationale Recht verletzten, wie beispielsweise Verbrechen gegen die Menschheit oder Kriegsverbrechen.

Nach dem Urteil des Areopag können die Kläger nun erstmals auf eine Erfüllung ihrer Forderungen hoffen. Sollte die Bundesregierung nicht der Gerichtsentscheidung folgen, könnten die Anwälte eine Zwangsvollstreckung beantragen - etwa gegen deutsche Kultureinrichtungen wie das Goethe-Institut. Auch andere Möglichkeiten werden in Betracht gezogen: Falls es bis zum 10. Juni »keine Entwicklung gibt, werden wir uns an die Europäische Union wenden«, hatte Ioannis Stamoulis, der Vertreter der Kläger, nach der Entscheidung des Areopag angekündigt. Griechenland könnte die Entschädigungssumme von der EU-Kommission fordern, die es dann wiederum von ihren Zahlungen an Deutschland abziehen müsste. In diesem Falle wäre allerdings vorher noch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs nötig.

Den als ausgesprochen »deutschfreundlich« geltenden Regierungschef Kostas Simitis bringt die Entscheidung des Areopag in eine unangenehme Situation. Bisher hat sich die sozialdemokratische Pasok-Regierung jeglicher eindeutiger Stellungnahme enthalten, da sie die guten Beziehungen zu Deutschland nicht belasten will. Gleichzeitig präsentiert sich Simitis gerne als Nachkomme einer Familie von Widerstandskämpfern und als aktiven Antifaschisten gegen die Militärdiktatur in den siebziger Jahren, was ihm viele Stimmen von der Linken einbrachte. Eine Ablehnung der Entschädigungsforderungen würde nicht gerade zu diesem Image passen.

Simitis wird sich jedoch einer klaren Stellungnahme kaum mehr entziehen können. Denn nach dem griechischen Recht muss »jede Beschlagnahme gegen einen fremden Staat vorher vom Justizminister bestätigt werden«. Der neue Justizminister Michalis Stathopoulos dürfte die Entscheidung seines Chefs schon gespannt erwarten.

Auch für die deutsche Regierung steht viel auf dem Spiel. Denn wenn sich die griechischen Kläger durchsetzen, würde dies den Weg für andere Klagen von Hinterbliebenen von Opfern des Nationalsozialismus eröffnen. Zwei Entscheidungen in der ersten Instanz stehen demnächst an: An den Landesgerichten von Athen und Agion (im Norden des Peloponnes) wird derzeit über Entschädigungsforderungen verhandelt. Im ersten Fall sind 1 267, im zweiten 700 Kläger beteiligt.

Weiterhin ungeklärt sind zwischen Griechenland und Deutschland auch die Entschädigungsforderungen für die Zerstörung der griechischen Infrastruktur durch die deutschen Besatzungstruppen sowie die Rückgabe des so genannten Besatzungsdarlehens. Mit diesem »Darlehen« war die griechische Regierung zur Finanzierung der deutschen Besatzungsarmee gezwungen worden. Schätzungen zufolge beträgt die Schadenssumme rund 215,3 Millionen US-Dollar. Die deutsche Regierung hat alle Forderungen bisher zurückgewiesen.