»Juden in Berlin 1938 - 1945«

Die Opfer der Opfer

Die Ausstellung »Juden in Berlin 1938 - 1945« ist unaufdringlich, dezent und genau - trotzdem wird sie als Wagnis wahrgenommen.

Weil es in der Werbung für die Ausstellung »Juden in Berlin 1938- 1945« in der Neuen Synagoge / Centrum Judaicum in Berlin-Mitte heißt, sie stelle die Ereignisse dieser Jahre »aus der Perspektive der jüdischen Verfolgten und ihrer Organisationen dar«, warnt der Tagesspiegel, die Ausstellung »wagt die Opferperspektive«. Das Publikum soll sich durch solche Warnung darauf gefasst machen, hier unter Umständen auf Material zu stoßen, welches nicht tausendmal durch den historiografischen Reißwolf gedreht wurde, um alle Spuren von Subjektivität und unerwünschten Emotionen unkenntlich zu machen. Mehr oder weniger verklausuliert war die Warnung vor dem Wagnis überall zu lesen. Vorsicht also, diese Ausstellung ist nicht objektiv! Das unterstellte Wagnis ist freilich keines: Es handelt sich bei »Juden in Berlin« nicht um eine auf vordergründige Emotionalität angelegte Ausstellung. Vielmehr wirkt sie in der Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre Perspektive einnimmt, unaufdringlich und eben deshalb zugänglich.

Vor allem aber ist sie eine der wenigen deutschen Ausstellungen, die sich in Gestaltung und Konzept auf internationalem Niveau bewegen: Gezeigt werden in 15 Stationen zahlreiche Exponate, ergänzt durch Audio- und Videostationen, es gibt so gut wie keine Texttafeln. Die verschiedenen Stationen werden, angefangen von der Pogromnacht 1938 über die »Arisierungen« und den gelben Stern bis zur Ende 1943 in Berlin verbliebenen Rest-»Reichsvereinigung der Juden«, jeweils anhand einzelner Biografien dargestellt. Kurzum, es handelt sich um eine Ausstellung, die so ähnlich in Paris und Amsterdam, in jüdischen Museen überall in Europa zu sehen ist: eine Ausstellung, in der die jeweilige Jüdische Gemeinde ihre Geschichte darstellt (und damit natürlich auch ihre eigene Interpretation dieser Geschichte - so what?).

»Die Täter können sich an den Holocaust eigentlich gar nicht erinnern (...). Die Täter haben ihre Interessen verfolgt, und sie waren ganz pragmatisch«, schrieb Hanno Loewy vom Frankfurter Fritz-Bauer-Institut schon 1995: »Diejenigen, die am allerwenigsten Täter waren unter den Deutschen, haben noch am ehesten gemerkt, daß zwischen dem, was '33, '38 und '42 passierte, ein Zusammenhang bestand. Aber umso näher wir zu den Tätern kommen, sehen wir einen arbeitsteiligen Prozeß, in dem jeder irgendwie mitspielte. Aus der Erfahrung der Opfer heraus ist dies etwas völlig anderes. Da erzählt sich diese ganze Geschichte in einem Leben von Ausgrenzung und Terror bis vor die Tür der Gaskammer.« Auch die Interpretation der Geschichtsschreibung ist von diesen antagonistischen Perspektiven geprägt: So betonen deutsche Historiker fortwährend das funktionale, pragmatische Element des Judenmords, während beispielsweise Raul Hilberg genau dieses Element als Beleg für den von Anfang an gezielten Charakter der antisemitischen Maßnahmen der Nazis begreift.

Anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der TU Berlin an die langjährige Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, Barbara Distel, vor drei Wochen formulierte Wolfgang Benz vom Zentrum für Antisemitismusforschung in seiner Laudatio diesen Widerspruch eigens auf Englisch, um zu verwischen, dass es sich um ein vorwiegend deutsches Problem handelt: Er sprach von »memory vs. history« und übersetzte das mit »Denken oder Gedenken«. Der Gegensatz zwischen Erinnerung und Geschichtsschreibung drücke sich, da musste er nun von Deutschland sprechen, in der »gespaltenen Wahrnehmung« der ersten Nachkriegsjahrzehnte aus. Die Historiker hätten sich, wie der Rest der deutschen Gesellschaft in einem »Zustand der Amnesie« befunden; die Überlebenden hätten mit ihrer »emotionalen« Perspektive - er traute sich wohl nicht, sie irrational zu nennen - eine Definitionsmacht beansprucht, in der der Holocaust zu einer »der Ratio sich verweigernden Katastrophe« geworden sei, also unerklärlich. Er lobte Barbara Distel dafür, dass sie für ein »kognitives« Konzept stehe, allerdings »ohne die Opfer auszugrenzen«. Die Geehrte bedankte sich, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass die Gedenkstätte Dachau sehr wesentlich von ehemaligen Häftlingen mitgestaltet wurde, und meinte, sie begreife diese Ehrung auch als Anerkennung für diese Überlebenden.

Dass Benz den Eindruck erweckte, als hätten ausgerechnet die Überlebenden in der Nachkriegszeit die Geschichtsschreibung mit ihrer Emotionalität dominiert und als würde Barbara Distel dafür geehrt, den Überlebenden das Heft aus der Hand genommen zu haben, hat weniger mit Tatsachen zu tun als damit, dass die viel gerühmte deutsche Holocaust-Forschung in den Ruch gekommen ist, in ihren nur noch als wahnhaft zu bezeichnenden Historisierungsanstrengungen reine Legitimationswissenschaft zu sein. Benz konstruierte das Bild der alten BRD als Heulsusengesellschaft unter der Fuchtel der Betroffenheit und rettete die deutsche Holocaustforschung, indem er sie als Korrektiv darstellte.

Sicherlich, es gab und gibt Gedenk-Kitsch, nur wurde und wird der in erster Linie von ganz normalen Deutschen, nicht von Überlebenden produziert. Ganz nebenbei wird so die Geschichte der Ausgrenzung der Überlebenden aus der westdeutschen Gesellschaft entsorgt, ganz zu schweigen von der »Wiedergutmachung« - aber Hauptsache, Deutsche, in diesem Fall Historiker, können sich als Opfer der Opfer gerieren.

Die fast verstörte Reaktion auf die Ausstellung »Juden in Berlin« zeigt, wie weit die »Historisierung« vorangeschritten ist. Schon in den neunziger Jahren wurden in Berlin zahlreiche Ausstellungen zu einzelnen Aspekten der Verfolgung der Berliner Juden gezeigt: Erinnert sei hier an die Ausstellung »Juden im Widerstand« und an die über den Jüdischen Kulturbund von 1933 bis 1945; des Weiteren gab es viele kleinere lokalgeschichtliche Projekte, wie etwa die Gedenktafeln rund um den Bayrischen Platz in Schöneberg oder die - im vergangenen Jahr wahrscheinlich von Rechten zerstörte - Jugendgeschichtswerkstatt am Anhalter Bahnhof. Alle diese Projekte behandelten ihr Thema aus der Perspektive der Verfolgten, aber von einem Wagnis war damals nicht die Rede.

Ein kleiner Zettel in krakeliger Kinderschrift: »Papa! Sind abgeholt. Komme sofort nach zur Gr. Hamburger. Klaus und Mama.« Ist ein solches Exponat eine unzulässige Emotionalisierung? Oder spricht nicht der eiserne Wille, sich von so etwas nicht anrühren zu lassen, gerade dafür, es zu zeigen? Ein Transparent mit den Namen der über 55 000 deportierten Berliner Juden, bewusst nicht alphabetisch, die der Überlebenden fett gesetzt. Lähmt das Erschrecken über diese Visualisierung des Massenmords das Denken oder kann sie dazu anregen? Wie anders wäre der Massenmord darzustellen? Leichenberge finden sich hier nicht. In der aktuellen Ausstellung gibt es keinen Widerspruch »Denken oder Gedenken« - genauso wenig übrigens wie in der KZ-Gedenkstätte Dachau. Dass es erst 55 Jahre nach der Befreiung eine solche Ausstellung gibt, in der beispielhaft Lebensläufe von Berliner Jüdinnen und Juden rekonstruiert werden, die ansonsten in der Zahlenarithmetik der Geschichtsschreibung untergehen, spricht der Behauptung von der Dominanz dieser Perspektive Hohn.

»Juden in Berlin 1938-1945«. Neue Synagoge / Centrum Judaicum, Berlin, Oranienburger Straße 28-30. Bis 20. August

Der Ausstellungskatalog, herausgegeben von Beate Meyer und Hermann Simon, ist bei Philo erschienen, hat 356 Seiten und kostet 34 Mark