Indische Oppositionsführerin Sonia Gandhi

Dynastie ohne Dynamik

In Indien hat sich die Begeisterung über die Oppositionsführerin Sonia Gandhi in Enttäuschung und Misstrauen gewandelt.

Wird Sonia Gandhi, indische Oppositionsführerin, von Mitgliedern ihrer Kongress-Partei dieser Tage gegen Kritik verteidigt, klingt die Anerkennung eher schal. »Fortschritte« habe die gebürtige Italienerin gemacht und nicht wenige damit überrascht, dass sie im Parlament bei einigen Themen effektiv interveniert habe, schrieb unlängst Vasanth Sathe in der Parteizeitung Sandesh. Der Herausgeber des Blattes fuhr mit einem Lob ihrer Bescheidenheit und Einsicht fort: »Sonia ist sich ihrer Beschränkungen nach wie vor voll bewusst, sowohl ihrer eigenen als auch jener, die den Umständen entspringen.«

Alle regionalen und nationalen Größen des Kongresses lieben es seit geraumer Zeit, Breitseiten auf die Parteipräsidentin zu feuern; einige prophezeien ihr gar eine Niederlage, wenn sie Anfang November erneut kandidieren wird. Schwerer noch als die verbalen Attacken wiegt die Blamage, der Gandhi von Kongress-Abgeordneten in den Länderparlamenten ausgesetzt wurde. In allen sechs Staaten, in denen die Wahlen zum Oberhaus anstanden, wählten Abgeordnete Kandidaten anderer Parteien. In drei Staaten fielen die von Sonia Gandhi handverlesenen Bewerber durch - in Westbengalen beispielsweise bekam der Kandidat nur 36 Stimmen, obwohl der Kongress 69 Abgeordnete stellt.

Wofür der Kongress oder Sonia Gandhi stehen, lässt sich kaum mehr erkennen. Immerhin hat die Partei, die während Rajiv Gandhis Wahlkämpfen hindu-nationalistische Rhetorik erst konsensfähig gemacht hatte, die Nische des Säkularismus besetzt. In diesem Bereich gelang ihr eine Offensive, als die hindu-nationalistische Regierungspartei BJP im Bundesstaat Gujarat Regierungsangestellten erlaubte, der militanten Hindu-Organisation RSS beizutreten. Der Kongress setzte die BJP im Bundesparlament so lange unter Druck, bis diese einen Rückzieher machte, da sie um die in dieser Frage gespaltene 23-Parteien-Koalition fürchtete.

Ansonsten jedoch ist die einzig wahrnehmbare Eigenschaft der Grand Old Party ihre Konturlosigkeit. In der Wirtschaftspolitik bietet die Partei keinerlei Alternativen zur Regierungskoalition, die die unter der Kongress-Herrschaft begonnene Politik der Marktöffnung und Liberalisierung fortsetzt.

Hatte sich die Partei stets der atomaren Bewaffnung widersetzt, scheint diese Position mittlerweile aufgeweicht zu sein. Auch hier ist ein Blick auf Sonia Gandhi wenig hilfreich: Im März betonte sie William Clinton gegenüber Indiens Recht auf nukleare Abschreckung. Zwar widerrief ein Sprecher dies drei Tage später, doch bleiben Zweifel. In wichtigen Fragen wie etwa den bedrohlich angespannten Beziehungen zu Pakistan, lässt der Kongress jegliche Initiative vermissen.

Die Tatsache, dass sich die politische Landschaft seit den achtziger Jahren nach Jahrzehnten unumstrittener Kongress-Herrschaft grundlegend gewandelt hat und mit den erstarkenden Regionalparteien und der BJP zwei neue Blöcke aufweist, hat bislang nicht dazu geführt, dass sich die Partei ernsthaft um Koalitionspartner bemüht.

Kaum jemand traut der noch vor einem Jahr hochgejubelten Parteipräsidentin die notwendigen Reformen zu. Zudem geben Wahldebakel ihren Kritikern Auftrieb. Nachdem die Partei bei den Bundeswahlen im letzten Jahr mit 112 von 545 Sitzen ihr historisches Tief erreichte, verlor sie in diesem Jahr vier Landeswahlen.

Was an dem Wandel überrascht, ist freilich weniger die aktuelle schlechte Stimmung gegen die Parteipräsidentin als die anfängliche Euphorie. In der Hoffnung, der Name Gandhi könnte den Niedergang ihrer Partei aufhalten, hatten die Führer des Kongresses die Witwe des 1991 ermordeten Premiers Rajiv Gandhi regelrecht bekniet, eine aktive Rolle zu spielen. Die praktizierende Katholikin lehnte immer wieder ab und setzte das sorgfältig aufgebaute Image der guten Hindu-Ehefrau als trauernde Witwe fort.

Im März 1998 schließlich zog sie in den Wahlkampf und mobilisierte mit ihren abgelesenen Reden beachtliche Massen. Zwar wurde die BJP stärkste Kraft im Bundesparlament, doch erreichte Sonia Gandhi einen Achtungserfolg. Weitere Wahlerfolge in drei Staaten schienen den Strategen Recht zu geben. Da störte es kaum, dass sich die schüchterne Hausfrau am liebsten über andere Leute, Kleidung, Ferien oder Kinder unterhielt und durch völlig Ahnungslosigkeit auffiel, wenn die Konversation politisch wurde. »Was soll das heißen, sie hat keine politische Erfahrung? Sie hat mehr politische Erfahrung als jeder andere Führer, denn sie hat Politik dadurch kennengelernt, dass sie mit Indira und Rajiv zusammengelebt hat«, soll der Politiker Sitaram Kesri damals gesagt haben.

Das absurde Festklammern an der Nehru-Gandhi-Dynastie ist die Ursache für die fehlende Alternative. War der Kongress bis zu Nehrus Tod 1964 eine Sammlungsbewegung, in der fast alle Schichten, Gruppen und Ideologien Indiens repräsentiert waren und die durch ein geschicktes Ausbalancieren der Interessen andere Parteien entweder überflüssig machen oder marginalisieren konnte, änderte sich der Charakter der Partei unter der autokratischen Herrschaft Indira Gandhis grundlegend.

Die demokratischen Strukturen wichen einem System abhängiger Höflinge. Politische Visionen wurden durch einen Personenkult ersetzt, der in dem Slogan »India is Indira« gipfelte. Wie selbstverständlich wurde nach ihrer Ermordung 1984 ihr Sohn Rajiv als Premier eingesetzt. Nach dessen Tod blieb nicht viel mehr als eine zersplitterte, prinzipienlose Partei, die mit Korruptionsvorwürfen zu kämpfen hatte und nur noch am reinen Machterhalt orientiert war.

»Wir haben Sonia Gandhi praktisch gezwungen, in die Politik zu gehen. Sie selbst war sehr zögerlich. Zumindest im Vertrauen hat sie mehrmals gesagt: Ich verstehe nichts von Politik. Ich habe keine Ahnung davon. Wir erwarteten, dass sie nicht nur Massen, sondern auch Wähler anziehen würde«, sagte Vithal Gadgil, der als Loyalist gilt, vor zwei Wochen.

Nachdem sich diese Erwartung nicht erfüllt hat, ist das Geschrei zwar groß, doch ob die Präsidentin tatsächlich abgewählt wird, darf bezweifelt werden. Denn die zerstrittenen und eitlen Kritiker werden sich kaum auf einen Gegenkandidaten einigen können. Und selbst Feinde räumen ein, dass eine Persönlichkeit mit einer vergleichbaren Massenwirkung nicht in Sicht ist.

Jedenfalls noch nicht: Ihre Tochter Priyanka stahl ihr bei Wahlkampfveranstaltungen die Schau und wird von einigen in der Partei »unsere Geheimwaffe« genannt. Sollte sich die Politologin tatsächlich für die Thronbesteigung entscheiden, könnte das Führungsproblem für die nächsten siebzig Jahre gelöst sein - sie ist im fünften Monat schwanger.