James Louis Cavallaro

»Reichtum bedingt Gewalt«

Die 500-Jahr-Feier sollte eine brasilianische Erfolgsgeschichte präsentieren. Doch stattdessen berichteten die Medien vergangenen Monat vor allem über die Proteste der Landlosenbewegung Movimento Sem Terra (MST). Seitdem ist die Bewegung bevorzugtes Ziel staatlicher Repression. Aber auch im Alltag gehört Folter und Mord zur gängigen Praxis von Brasiliens Polizeibehörden. Bei seiner Wiederwahl vor zwei Jahren erklärte Brasiliens Präsident Fernando Henrique Cardoso, er werde sich verstärkt dem Schutz der Menschenrechte widmen. Einen Anspruch, den er erst vergangene Woche auf dem Reformgipfel von Bundeskanzler Gerhard Schröder in Berlin bestätigte. James Louis Cavallaro, ist langjähriger Leiter von Human Rights Watch Brasilien, ein Juriste und Mitbegründer der Menschenrechtsorganisation Justiça Global in Rio de Janeiro.

Seit einigen Wochen geht die brasilianische Regierung wieder verstärkt gegen die Landlosenbewegung vor. Will sie dieses Problem nun allein mit Hilfe der Polizei lösen?

Das Verhalten der Regierung Cardoso erweckt zumindest diesen Eindruck. Seit Anfang Mai hat es zwei Fälle gegeben, in denen das Gesetz über die »Nationale Sicherheit« wieder zur Geltung kam. In beiden Fällen handelt es sich um Verfahren gegen die Landlosenbewegung in Paraná. Das Gesetz ist ein Relikt aus den Zeiten der Militärdiktatur, es wurde jedoch in den vergangenen Jahren nicht mehr angewendet.

Ein anderes Beispiel: Die Bundespolizei hat kürzlich eine Sondereinheit für Landkonflikte eingerichtet. Der Name ist ein Euphemismus, denn jeder weiß, dass es sich dabei um eine Einheit gegen die MST handelt.

Wieso wird dieses schon fast vergessene Gesetz über die »Nationale Sicherheit« wieder angewendet?

Diese Maßnahmen sind eine Reaktion der Regierung auf die landesweiten Proteste, die die Landlosenbewegung während der 500-Jahr-Feiern organisiert hatte. Eine absurde Reaktion. Denn bei der MST handelt es sich schließlich nicht um eine Gruppe von Terroristen, sondern um eine soziale Bewegung, die in der Verfassung garantierte Rechte in Anspruch nimmt.

Wieso reagiert der Staat auf diese Bewegung, die im Gegensatz etwa zu den Gewerkschaften kaum über Machtmittel verfügt, so aggressiv?

Die Landlosenbewegung stellt für die Regierung eine ernsthaftere Bedrohung als die Gewerkschaften dar. Die MST thematisiert einen Konflikt, den die Regierung nicht lösen kann. Nirgendwo auf der Welt ist der Landbesitz derart konzentriert wie in Brasilien; ein Prozent der Bevölkerung kontrolliert ungefähr die Hälfte der nutzbaren Fläche. Es wäre einfach, dieses Problem durch eine Agrarreform zu lösen. Doch in der Mitte-Rechts-Koalition von Präsident Fernando Henrique Cardoso sitzen die Großgrundbesitzer und die Anteilseigner der großen Latifundien. Die Regierung braucht die Unterstützung dieser mächtigen Lobby, um ihre Projekte durchzusetzen. Sie kann daher nichts Grundlegendes verändern.

Die Regierung Cardoso betrachtet sich selbst als Vertreterin eines zivilgesellschaftlichen Modells. 1999 hat sie einen Bericht über Folter vorgelegt, der viel Beachtung fand.

Bei dem Thema Menschenrechte lässt sich die Politik der Regierung Cardoso in zwei Bereiche unterteilen: Die zivilen und politischen Rechte haben erste Priorität, während die sozialen und ökonomischen Rechte als untergeordnet angesehen werden.

Im ersten Bereich gibt es sicherlich einige Fortschritte, wie etwa den Bericht über die Menschenrechte. Die Regierung hat damit die Existenz von systematischer Folter durch die Polizei in Brasilien anerkannt. Nur muss sie auch Konsequenzen daraus ziehen. Bisher ist es Aufgabe der Polizei, gegen Beamte zu ermitteln, die der Folter verdächtig werden. Jeder weiß, dass dabei nichts herauskommt.

Welche Folgen hatte der Bericht bislang?

Vor allem einen diplomatischen Effekt. Der Bericht fand im Ausland und vor der Uno großen Beifall. Anerkennend wurde bemerkt, dass sich die Verantwortlichen in Brasilia mit diesem Problem auseinandersetzen. Währenddessen werden weiterhin Menschen mit Elektroschocks oder der Papageienschaukel gefoltert.

Wenn Folter weiterhin gängige Praxis ist, was hat sich dann seit dem Ende der Militärdiktatur in Brasilien geändert?

Es sind sicherlich einige Fortschritte zu verzeichnen. Es existieren heute keine Todeslisten mehr, die Pressefreiheit ist einigermaßen gewährleistet. Wir haben freie Wahlen, auch wenn sie oft durch die Korruption beeinträchtigt werden.

Doch eines unserer größten Probleme besteht heute darin, dass sich die Herkunft der Opfer geändert hat. Vor zwanzig, dreißig Jahren waren es vor allem die Kinder aus der Mittel- und Oberschicht, die zu den Opfern der Militärdiktatur gehörten. Die Mitglieder der Studentenbewegung hatten aber immerhin die Fähigkeit und die Mittel, mit der Elite zu kommunizieren und die Sympathien eines großen Teils der Bevölkerung zu gewinnen.

Heute sind die Opfer vor allem die Kriminellen, die Favela-Bewohner, die Ausgeschlossenen aus der Gesellschaft. Es sind Namenlose, die über keine Lobby und über keine Organisation verfügen. Wer sich für sie einsetzt, wird schnell als Verteidiger und Komplize von Verbrechern denunziert.

Diese Entwicklung lässt sich auch in einer einfachen Statistik aufzeigen: Während der Militärdiktatur wurden etwa 500 Personen ermordet. Im Jahr 1998 hat allein die Polizei des Bundesstaates Rio de Janeiro über 7oo Personen getötet. Häufig handelt es sich bei den so genannten Schusswechseln um schlichte Hinrichtungen. Diese Zahlen sollten zumindest zu denken geben.

Die Menschenrechtsgruppen achten ebenfalls sorgsam auf die Trennung zwischen den so genannten zivilen Rechten und den sozialen Themen.

Die NGOs haben sich bisher darauf konzentriert, für die Bürgerrechte einzutreten und sich gegen Folter und Polizeiübergriffe auszusprechen. Diese Fälle sind verhältnismäßig einfach zu dokumentieren, die Glaubwürdigkeit der Menschenrechtsorganisationen ist hier sehr hoch. Im Gegensatz dazu fällt es natürlich schwer, gegen so allgemeine Probleme wie die Verelendung zu kämpfen. Mit diesen Themen macht man sich auch leichter angreifbar.

Doch die Unterteilung in Menschenrechte erster und zweiter Klasse lässt sich nicht aufrechterhalten. In Brasilien existiert eine klare Beziehung zwischen der ungleichen Verteilung des Reichtums und der zunehmenden Gewalt. Die nationale Menschenrechts-Konferenz hat vergangenes Jahr daher zum ersten Mal einen Bericht über dieses Thema in Auftrag gegeben, der der Uno übergeben werden soll. Die Annäherung zwischen den Menschenrechtsgruppen und den sozialen Bewegungen ist eine der wichtigsten Entwicklungen der letzten Jahre.

Die Tageszeitung O Globo berichtete kürzlich über eine Art Neuauflage der Operation Condor; diesen Decknamen wählten die Geheimdienste der südamerikanischen Militärdiktaturen in den siebziger Jahren für ihre gemeinsamen Aktionen. Heute sollen die Dienste wieder Absprachen treffen - gegen vermeintliche Bedrohung durch die sozialen Bewegungen.

Es ist natürlich schwierig, solche Informationen mit Sicherheit zu bestätigen. Aber eine große Überraschung stellen sie nicht dar. In Lateinamerika hat nie eine kritische Aufarbeitung der Geheimdienst-Aktivitäten während der Zeit der Militärdiktaturen stattgefunden - vergleichbar etwa mit der Auseinandersetzung in Deutschland mit der Stasi-Vergangenheit.

In Lateinamerika herrscht Kontinuität: Das Personal wurde nicht ausgetauscht, die Dienste konnten einfach weiter arbeiten. Die staatlichen Organe werden auf die Polarisierung der gesellschaftlichen Konflikte in Lateinamerika reagieren. Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass die Geheimdienste untätig zusehen, wie die sozialen Bewegungen an Einfluss gewinnen.