Alternative Lebensformen

Schlager nach Mitternacht

Von

Nehmen wir einmal an, Sie wohnen an einer großen Straße in Berlin-Kreuzberg. Tun Sie nicht? Dann stellen Sie es sich einfach vor: Sie könnten den ganzen Tag am Fenster verbringen und das Treiben auf der Straße betrachten. Das wäre wesentlich interessanter als fernzusehen.

Z.B. wenn Sie sich für Fußball interessieren. Tun Sie nicht? Dann stellen Sie es sich einfach vor: Wenn die türkische Nationalelf spielt, sind die Straßen wie ausgestorben, anschließend stürmen Ihre Nachbarsfamilien entweder jubelnd und Fähnchen schwenkend oder wild gestikulierend und sich den Frust in Alkoholika ertränkend zurück in den öffentlichen Raum.

Sie können sich aber auch den Spaß machen, die deutschen Mit-Kreuzberger zu beobachten. Sie werden einige ausgefallene Exemplare ausmachen: Kampfhunde-Besitzer im Unterhemd, Lederjacken-Träger, die selbst an heißen Tagen nicht auf ihr liebstes Kleidungsstück verzichten mögen, oder sonnenbebrillte Café-Gänger mit gut gefülltem Portmonnaie und alternativem Bewusstsein. Es ist aber längst nicht so, dass in Kreuzberg kaum noch Deutsche leben.

Wenn Sie an einer großen Straße im Bezirk wohnen, kann es Ihnen sogar passieren, dass sich im Haus keine einzige ausländische Mietpartei findet. Vorausgesetzt, Sie suchen sich eine Vermieterin vom alten Schlag aus. Eine, die Kaiser Wilhelm an der Wand hängen hat, sich davor fürchtet, dass die Russen in Kürze das Gas abdrehen, und grundsätzlich nur an Deutsche vermietet. Sowas tun Sie nicht? Dann stellen Sie es sich einfach vor: Ihre Nachbarn sind irgendwie blass und langweilig. Die wenigen Wohngemeinschaften im Haus stellen den Hof mit Fahrrädern zu, in den Räumen über Ihnen toben nur ganz selten Kinder herum, meist werden Sie vorm Fernseher ruhig gestellt. Ja, im ganzen Haus ist es so ruhig, dass Sie sogar hören, ob die Katze von nebenan gerade Hunger hat und mit vorsichtigen Miau-Lauten darauf aufmerksam macht.

Nachts ist dann - vom Knarren einiger Dielen mal abgesehen - nur der übliche Lärm einer großen Kreuzberger Straße zu vernehmen. Den können Sie getrost überhören, wenn Sie einen gesunden Schlaf haben. Haben Sie nicht? Dann stellen Sie es sich einfach vor.

Aber natürlich steht Ihr Haus mit Ihren merkwürdigen Nachbarn nicht isoliert in Kreuzberg herum. Sie ahnen ja nicht, was sich in den angrenzenden Gebäuden so tut. Was z.B., wenn Sie durch das Küchenfenster auf dem Nachbarhof ein voll belegtes Altersheim beim Kaffee-Klatsch erspähen? Tun Sie nicht? Dann stellen Sie es sich einfach vor: Die Alten sitzen schweigend um die aufgebauten Tische. Gegessen und getrunken wird auch nur, wenn die Pflegerinnen sich zur Fütterung bequemen.

Trotzdem ist in der Rentner-Runde für Stimmung gesorgt. Es läuft Musik, Schlagermusik. Ob der Schwerhörigkeit der Versammelten natürlich alles andere leise, sodass Ihnen selbst das Geräusch der großen Straße entgeht.

Manchmal, wenn Ihren weißhaarigen Nachbarn langweilig ist - und wann bitteschön ist es das im Altersheim nicht -, schmeißen die älteren Semester auch schon mal nachts die Musikbox an.

Aber gegen Schlager nach Mitternacht gibt es ein simples Rezept: Erwidern Sie mit den härtesten Techno-Beats, die Ihre Anlage zulässt. Tun Sie nicht? Dann sollten Sie es einfach mal versuchen.