Rot-grüne Atompolitik

Strahlendes Ende

Sollte in dieser Legislaturperiode doch noch ein AKW vom Netz gehen, wäre das nicht Folge rot-grüner Atompolitik, sondern der Liberalisierung des Strommarktes geschuldet.

Am ehrlichsten war am Tag nach dem nächtlich erzielten Atomkonsens Otto Majewski, der Vorstandschef der Bayernwerke und Präsident des Deutschen Atomforums. Den Weiterbetrieb der Reaktoren sah er Ende vergangener Woche auf Jahre gesichert: »Unser erklärtes Ziel, die deutschen Kernkraftwerke zu wirtschaftlich akzeptablen Bedingungen weiterhin nutzen zu können, haben wir erreicht.« Majewski wusste, dass es hätte schlimmer kommen können: »Die rot-grüne Bundesregierung wäre durchaus in der Lage gewesen, den Bestand und den Betrieb der Kraftwerke nachhaltig zu beeinträchtigen.«

Hat sie aber nicht. Ganz im Gegenteil. Mit dem vom Kanzler, den Ministern für Umwelt und Wirtschaft und den Chefs der vier größten Atomstrom-Produzenten ausgehandelten Ergebnis ist die Zukunft der deutschen Atomkraftwerke gesichert: »Bei Einhaltung der atomrechtlichen Anforderungen gewährleistet die Bundesregierung den ungestörten Betrieb der Anlagen.« So steht es schwarz auf weiß in der Vereinbarung.

Die Zugeständnisse der Atomstromer sind dagegen rein symbolischer Natur. »Die Energiewirtschaft verzichtet auf die Errichtung neuer Kernkraftwerke, was sie in absehbarer Zeit ohnehin nicht vorhatte«, kommentierte die FAZ trocken, »und sie gesteht zu, dass die Laufzeit ihrer Anlagen nicht unbegrenzt ist, was sie ohnehin nie war.«

Selbst wenn in dieser Legislaturperiode doch noch erste Reaktoren vom Netz gehen sollten, wäre dies keine Folge der rot-grünen Atompolitik, sondern des liberalisierten Strommarktes: Kleine Kraftwerke mit großer Belegschaft können bei fallenden Strompreisen einfach nicht mehr mithalten. Umweltminister Jürgen Trittin scherzte schon, dass Atommeiler wie Stade und Obrigheim nur noch am Netz sind, »weil ich Minister bin«, also als Verhandlungsmasse beim Feilschen mit der Regierung benötigt wurden.

Entscheidend für die AKW-Betreiber ist, dass die Laufzeiten nicht für alle Reaktoren gleich bemessen sind, sondern dass sie von unrentablen auf rentable Anlagen übertragen werden können. »Kein Versorger hat etwas dagegen, veraltete Meiler abzuschalten«, urteilte die Financial Times Deutschland. »Die Branche leidet sowieso europaweit an Überkapazitäten. Die neueren Kraftwerke können dann fast bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts billigen Strom produzieren.«

Möglich wird dies, weil die Bundesregierung es unterlassen hat, ein Datum für das Abschalten des letzten Kraftwerks festzulegen. Dabei hatte die grüne Bundestagsfraktionsvorsitzende Kerstin Müller noch im April erklärt: »In 18 Jahren geht das letzte Atomkraftwerk vom Netz, und das ist für die Grünen auch das Ende der Fahnenstange.« Insgesamt wurde beim Verfassen der gemeinsamen Vereinbarung von Konzernen und Regierung darauf geachtet, vieles möglichst unklar zu formulieren. Am besten ist dies bei der Frage der Laufzeiten gelungen. Die werden nämlich nicht mehr in Jahren, sondern in Strommengen gemessen. Jedes Kraftwerk bekommt ein bestimmtes Stromkontingent zugeteilt, das produziert werden darf - egal, wie lange das dauert. Kommt es also beispielsweise wegen eines Störfalls zu einem längeren Anlagen-Stillstand, so dehnt sich - weil ja kein Strom produziert wurde - die Gesamtlaufzeit entsprechend aus.

Bundeskanzler Gerhard Schröder rechnete noch in der Nacht nach der Einigung mit den Vorstandschefs die Strommengen salopp in Laufzeiten um. 32 Jahre »Regellaufzeit«, so der Kanzler, seien pro Atommeiler mit den vereinbarten insgesamt 2 623 Terrawattstunden »Reststrommenge« zu machen. Die Grünen beeilten sich, darauf hinzuweisen, dass dies doch ganz nah bei den von ihnen geforderten 30 Jahren liege. »Wenn der Konsens an zwei Jahren scheitern würde, könnte das doch niemand verstehen«, lautete ein immer wieder vorgetragenes Argument.

Was die Beteiligten verschweigen: Die Umrechnung der Strommenge auf Laufzeiten hängt davon ab, wie lange ein AKW pro Jahr am Netz ist. Wegen des Wechselns von Brennelementen, der Wartungsarbeiten und Störfälle produzieren die Reaktoren durchschnittlich nur an knapp acht von zehn Tagen Strom. Doch für den Konsens wurde daran kräftig gedreht: So wird der Probebetrieb nach der Inbetriebnahme der Reaktoren gar nicht mitgerechnet - das allein macht bei einzelnen Anlagen bis zu eineinhalb Jahren aus. Darüber hinaus wurden nicht der Durchschnitt, sondern die fünf ertragreichsten Jahre aus der letzten Dekade als Rechen-Grundlage genommen, 5,5 Prozent Bonus hinzuaddiert und schließlich noch elf virtuelle Betriebsjahre aus dem wegen Erdbebengefahr seit Ende der achtziger Jahre abgeschalteten AKW Mülheim-Kärlich zugeschlagen.

Unterm Strich entstand damit die Schröder-Trittinsche Kalenderreform. Denn nur wenn mensch davon ausgeht, dass ein Jahr 400 Tage hat, ergeben sich daraus Laufzeiten von durchschnittlich 32 Jahren. Wer nach dem alten Kalender rechnet, kommt auf knapp 35 Jahre, und dies ist zufällig genau die Forderung, mit der die Atomstromer in die Verhandlungen gegangen sind.

So nebenbei hat sich Rot-Grün von allen Möglichkeiten befreit, die den Stromkonzernen das Leben schwer machen könnten. Die milliardenschweren Entsorgungs-Rücklagen der Energieversorger werden nicht angetastet; »diskriminierende Maßnahmen« im Steuerrecht werden ausgeschlossen, sodass es auch keine Steuer auf Uran geben wird. Die Sicherheitsstandards werden auf dem heutigen Stand eingefroren und dürfen künftig nicht verschärft werden. Damit bestätigt die Bundesregierung indirekt, dass das Sicherheitsniveau der bestehenden Atomanlagen ausreichend ist.

Den bisher hoffnungsvollsten Hebel zum juristisch abgesicherten und entschädigungsfreien Abschied von der Atomkraft geben die Regierungs-Unterhändler freiwillig aus der Hand: War es bisher zumindest theoretisch möglich, den Reaktoren wegen fehlender Konzepte zum Umgang mit dem strahlenden Müll die Betriebsgenehmigung zu entziehen, so soll dieser so genannte Entsorgungsvorsorgenachweis in Zukunft auf die Lagerung von Castor-Behältern in Zwischenlager-Hallen an allen AKWs beschränkt werden. Das hat zwar mit der Lösung des Problems nichts zu tun, aber Rot-Grün reiht sich damit nahtlos in die bisher gängige Praxis aller Bundesregierungen ein, bei rechtlichen Problemen rund um die Atomkraftnutzung - nicht die Praxis an die Gesetze, sondern die Gesetze an die Bedürfnisse der Betreiber anzupassen.

Die Transporte zur Wiederaufarbeitung im Ausland können noch fünf Jahre rollen - eine Verlängerungsklausel ist schon eingebaut. Stolz bezeichnete Jürgen Trittin dies als »Ausstieg aus der Plutoniumwirtschaft« und übersah dabei den kleinen Zusatz im Konsens-Papier: »Angelieferte Mengen dürfen verarbeitet werden.« Das ist der Freibrief für mindestens ein weiteres Jahrzehnt Wiederaufarbeitung.

Die heiß umkämpften Transporte zu den Zwischenlagern in Gorleben und Ahaus sollen wieder aufgenommen, aber baldmöglichst minimiert werden, indem der strahlende Müll künftig direkt am Kraftwerk abgestellt wird. Zunächst in provisorischen Garagen, später in den bereits erwähnten Lagerhallen.

Genehmigt werden sollen darüber hinaus das Atommüll-Endlager Schacht Konrad in Salzgitter und die Pilotkonditionierungsanlage (PKA) in Gorleben - eine Fabrik zum Umpacken strahlender Brennelemente. Beim Bau des Endlagers im Salzstock Gorleben gibt es eine kurze Pause von mindestens drei Jahren. Allerdings hat die Regierung sämtliche von SPD und Grünen in all den Oppositionsjahren nachgewiesenen Sicherheitsmängel plötzlich vergessen und erklärt den Standort für geeignet.

Die AKW-Betreiber können zufrieden sein. Doch Jürgen Trittin argumentiert tapfer. An einer Stelle, so der Minister, habe er sich doch vollständig durchgesetzt. Die Haftpflichtversicherungs-Summe für die einzelnen Kraftwerke wird von 500 Millionen auf fünf Milliarden Mark erhöht. Damit sind künftig statt 0,01 Prozent 0,1 Prozent der durch eine Reaktorkatastrophe zu erwartenden Schäden versichert. Ein beruhigendes Gefühl.