Morden für die Marktwirtschaft

Bei der Repression gegen Gewerkschafter in Südamerika arbeiteten Militärdiktaturen und Konzerne wie Mercedes-Benz in den siebziger Jahren eng zusammen. Die Folgen dieser Allianz prägen bis heute das gesellschaftliche System des Kontinents.

Während über 20 Gewerkschafter aus dem Mercedes-Benz-Werk in González Catán in Argentinien von Militärs und Polizei verhaftet, verschleppt und später ermordet wurden, schrieb Anfang 1977 in der Konzernzentrale in Stuttgart-Untertürkheim ein leitender Mitarbeiter den Geschäftsbericht der Aktiengesellschaft für das zurückliegende Geschäftsjahr. Auf Hochglanzpapier heißt es da zwischen Produktionsziffern und bunten Schaubildern: »Die politische und wirtschaftliche Stabilisierung in Argentinien seit Frühjahr 1976 sowie die getroffenen geschäftspolitischen Maßnahmen haben sich positiv auf das Unternehmen ausgewirkt.«

Glückwunsch, könnte man sagen, gäbe es da nicht einen Schönheitsfehler: Die »Stabilisierung« im Frühjahr 1976 setzte nämlich das Militär durch, und das mit brachialer Gewalt. Nach dem Putsch am 24. März begann eine Treibjagd auf alle, die zuvor für Unruhe gesorgt hatten. Militante Gewerkschafter, linke Studierende, engagierte Christen und Guerilleros wurden gefoltert und ermordet. Bis 1983 fielen dem Terror nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen über 30 000 Oppositionelle zum Opfer. Gleichzeitig setzten die Militärs eine Wirtschaftspolitik durch, die den Interessen transnationaler Konzerne wie Mercedes-Benz entsprach.

Im Geheimerlass 504/77 der putschenden Generäle wurde das Programm ohne Umschweife formuliert: Das Heer werde darauf hinwirken, »die aus den Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern entstehende Konfliktsituation zu neutralisieren, welche durch die Subversion provoziert worden« sei. »Aufrührerische Agitation und Aktionen der Massen zu verhindern und zum effizient funktionierenden Produktionsapparat des Landes beizutragen«, sei das Ziel. Bei Mercedes-Benz hatten die Militärs Erfolg. Die oppositionelle Gewerkschaftergruppe, die vor dem Putsch noch erfolgreiche Streiks durchgeführt hatte, wurde zerschlagen. Der »Stabilisierungsprozess« sei für das Unternehmen »insgesamt positiv« verlaufen, resümierte anschließend der Geschäftsbericht.

Über die Zerschlagung der Opposition hinaus bezog sich die beifällige Bilanz des Stuttgarter Autokonzerns auf einen allgemeineren politischen Rahmen. Denn mit dem Putsch in Argentinien wurde nun auch hier eine Entwicklung eingeleitet, die im Nachbarland Chile bereits 1973 begonnen hatte. Dort setzten nach dem Sturz des sozialistischen Reformpräsidenten Salvador Allende die Pinochet-Militärs und ihre »Chicago Boys« ein wirtschaftspolitisches Programm durch, das heute unter dem Terminus »Neoliberalismus« firmiert.

Die jungen chilenischen Technokraten waren beim Nobelpreisträger Milton Friedman an der Universität von Chicago ausgebildet worden. Ihr Programm beinhaltete alles, was bis heute als Inbegriff moderner Wirtschaftspolitik gilt: Rückzug des Staates, Privatisierungen, Streichung von Subventionen, Abbau von Schutzzöllen, Deregulierung der Kapitalmärkte.

Nach dem Putsch fanden die »Chicago Boys« in Chile optimale Bedingungen für ihre Maßnahmen vor. Die Militärs hatten die Parteien zerschlagen und die Gewerkschaften eliminiert. Öffentlichkeit, Medien und Universitäten standen unter ihrer Kontrolle. Chile sollte als Exporteur preiswerter Rohstoffe und Anbieter kostengünstiger Arbeitskraft seinen Platz in der Weltwirtschaft einnehmen.

Dieses Erfolgsmodell wurde 1976 auch in Argentinien durchgesetzt. Und nicht nur dort: In den meisten Ländern Südamerikas waren in den siebziger Jahren die Militärs an der Macht. Geheimdienstlich assistiert von der CIA, logistisch vernetzt über die Operation Condor, ideologisch begleitet durch die neoliberalen Denkschulen und politisch unterstützt von den Regierungen in den USA und Europa, zerschlugen sie die linke Opposition, die sich nach der Kubanischen Revolution seit 1959 in Lateinamerika ausgebreitet hatte.

Dabei machten sie keineswegs Halt bei den revolutionären Guerilla-Organisationen, die Ché Guevaras Beispiel nacheiferten, sondern gingen gegen alle vor, die ihnen im Weg standen. Kaum einer hat das treffender formuliert als Brigadegeneral Iberico Manuel Saint Jean, der ehemalige Gouverneur von Buenos Aires: »Erst werden wir die Subversiven töten, dann ihre Kollaborateure, dann ihre Sympathisanten, danach die Indifferenten und zum Schluss die Lauen.«

Der Neoliberalismus sollte in Lateinamerika das Modell der importsubstituierenden Industrialisierung ablösen, das sich dort als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise von 1929 etabliert hatte. Grundgedanke dieser Politik war es, die Abhängigkeit des Kontinents von den entwickelten westlichen Industriestaaten und insbesondere von den übermächtigen USA zu durchbrechen. Statt nur billige Rohstoffe für den Weltmarkt zu liefern und von teuren Technologie-Importen abhängig zu sein, sollte eine eigene industrielle Basis aufgebaut werden. In diesem Konzept übernahm der Staat eine führende Rolle. Planungsämter wurden geschaffen, Staatskonzerne gegründet, Bodenschätze verstaatlicht. Die erstarkende Gewerkschaftsbewegung trat - oft mit der Unterstützung nationalistischer Populisten wie Juan Domingo Peron in Argentinien - in Konfrontation mit ausländischen Konzernen.

Obwohl diese Politik hauptsächlich den Interessen der lokalen Unternehmereliten und den entstehenden Mittelschichten diente, bot sie auch der Linken zahlreiche Anknüpfungspunkte. So öffneten sich etwa durch die Verstaatlichungspolitik und die Entwicklung von Schlüsselindustrien Verteilungsspielräume, die die Gewerkschaften erfolgreich nutzen konnten. Gerade in Argentinien verbesserte sich in den fünfziger Jahren unter der populistischen Präsidentschaft Perons der Lebensstandard auch der Arbeiter. In einer radikalisierten Version wurde diese Strategie von Fidel Castro in Kuba und später auch von den Sandinisten in Nicaragua übernommen.

Die neoliberalen Chicago Boys machten nach den Militärputschen der siebziger Jahre allerdings Schluss mit diesem Modell, das selbst in die Krise geraten war. Seit der Weltwirtschaftskrise Mitte der siebziger Jahre, spätestens aber mit der Schuldenkrise Anfang der achtziger Jahre, schien das Konzept der nachholenden Industrialisierung in Lateinamerika ebenso gescheitert wie in Westeuropa der sozialdemokratische Keynesianismus. Doch bevor die regionalen Eliten das neoliberale Modell durchsetzen konnten, musste zuerst die politische Linke des Kontinents entscheidend geschwächt werden.

Dies ist den Militärs und Eliten vorbildlich gelungen. Denn obwohl die Modernisierungsversprechen des Neoliberalismus nicht eingehalten werden konnten und die Staatsverschuldung der lateinamerikanischen Länder höher denn je ist, funktionieren die Ökonomien südlich des Rio Grande heute im Sinne der Global Players und der regionalen Eliten.

Die Militärdiktaturen machten »kontrollierten Demokratien« und populistischen Präsidialregimen Platz, in denen sich politische Optionen gegenüberstehen, deren Wirtschaftsprogramme sich nur in Nuancen unterscheiden. Die radikale System-Opposition der siebziger Jahre konnte sich nirgends wieder zu einem bestimmenden politischen Faktor entwickeln. In Chile wie auch in Argentinien regieren heute »Mitte-Links-Parteien«, die wie ihre sozialdemokratischen Kollegen in Europa das Credo des freien Marktes predigen. USA und EU konkurrieren dabei um die Integration des Kontinentes in ihre jeweiligen Freihandelszonen.

Dass die viel beschworene Gleichung »Marktwirtschaft gleich Demokratie gleich Menschenrechte« nicht aufgeht, haben die Militärs in Südamerika mit großem Eifer deutlich gemacht. Ob Mercedes-Benz und Ford in Argentinien oder Volkswagen und Saab-Scania in Brasilien, die Liste der Unternehmen, die in den siebziger Jahren den Militärs missliebige Gewerkschafter ans Messer lieferten, ist lang. »Por la memoria« - »Für die Erinnerung« heißt die Überschrift eines Flugblattes, das überlebende Gewerkschafter kürzlich vor dem Mercedes-Werk in González Catán verteilten - bis sie vom Werkschutz vertrieben wurden.