Sozialversicherung in Frankreich

Aus für das modèle boche

Lange Gesichter bei Frankreichs bedeutendstem Kapitalverband Medef (»Bewegung der Unternehmen Frankreichs«): Seit einem Dreivierteljahr hatte die Unternehmer-Organisation für eine »Neubegründung der sozialen Beziehungen« getrommelt. Und jetzt wurden all die schönen Pläne zunichte gemacht.

Frankreichs bisheriges Tarifmodell, in dem die politische Intervention nach wie vor eine recht zentrale Rolle spielt, wollte der Medef durch ein stärker am bundesdeutschen Konzept der »Sozialpartnerschaft« ausgerichtetes ablösen, das vorwiegend auf Vertragspolitik zwischen gleichermaßen »verantwortungsbewuss-ten« Interessenverbänden fußen sollte (Jungle World, 26/00). Der bürgerliche Staatspräsident Jacques Chirac, der um Profilierung gegenüber der sozialdemokratisch dominierten Regierung bemüht ist, vertritt dieses Ziel offensiv. In seiner Rede zum 14. Juli sprach er in diesem Zusammenhang von einer »neuen sozialen Demokratie«.

Zwei von fünf auf nationaler Ebene als »repräsentativ« anerkannten Gewerkschaftsbünden hatten sich im Juni bereit gefunden, gemeinsam mit den Arbeitgebern ein paritätisches Abkommen über die Zukunft der Arbeitslosenversicherung zu unterschreiben. Erwerbslose, die Stellenangebote etwa wegen miserabler Arbeitsbedingungen oder schlechter Bezahlung ablehnen, sollen nach dem 1. Januar 2001 handfesten Sanktionen unterworfen werden.

Da dem Staat in der paritätischen Vereinbarung noch eine Rolle als Oberaufsicht zukommt, musste sie von der Regierung ratifiziert werden. Kein Problem, dachten die Medef-Chefs. Doch dann kam der Theaterdonner: Am 24. Juli erklärten Arbeitsministerin Martine Aubry und Wirtschaftsminister Laurent Fabius in einem Schreiben an Gewerkschaften und Kapitalverbände, dass eine Ratifizierung des »antisozialen« Abkommens für sie nicht in Frage komme.

75 Milliarden Francs (14,3 Milliarden Euro) Überschüsse der Erwerbslosenversicherung, so begründeten Aubry und Fabius ihre Ablehnung, würden für die Jahre 2000 bis 2003 erwartet - unter anderem dank einer rigiden Sparpolitik der Kasse. Doch 71 Milliarden davon sollten nicht den Erwerbslosen zukommen, sondern in die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge einfließen - und damit insbesondere den Unternehmern zugute kommen, denn die geplante Beitragssenkung lag auf Arbeitgeberseite 40 Prozent höher als bei den abhängig Beschäftigten. Die erwarteten Mehrausgaben während der ersten Zeit nach Inkrafttreten des Abkommens hingegen sollten dem Staat aufgelastet werden. Diesem Plan erteilten die Minister nun einen abschlägigen Bescheid.

Die Kapitalverbände und die beiden Gewerkschaften CFDT und CFTC reagierten postwendend, indem sie ihren Rückzug aus der Arbeitslosenversicherung ankündigten. Damit ist der offene Konflikt ausgebrochen. Die Mehrheit der großen Gewerkschaftsbünde (CGT, Force Ouvrière und die Angestelltenvertretung CGC) begrüßte die Regierungsentscheidung jedoch ebenso wie alle Linksparteien, von der KP bis zu den Sozialisten. Die bürgerliche Rechte schrie einhellig auf und klagte die Regierung des »Etatismus«, sogar des »sozialen Staatsstreichs« an. Auch im Gebälk der CFDT kracht es: Durch die Ablehnung des Abkommens mit dem Medef hat erstmals die linke Opposition wieder Auftrieb erhalten. Die CFDT-Sektion bei der Arbeitslosenversicherung hat bereits angekündigt, aus dem Dachverband auszutreten und sich den linken Basisgewerkschaften Sud anzuschließen.